Interlaken. Silvia Götschi
Die Zahl verschwamm vor Max’ Augen. Allein diese bewies, dass es sich nicht um einen normalen Auftrag handeln konnte.
Xìngshì Dan fixierte Max mit starrem Blick. «Finden Sie die Frauen!»
***
Über dem Thunersee breitete sich das Licht der untergehenden Sonne wie ein gewobenes Tuch aus Goldpartikeln aus. Wellen schlugen unaufhörlich an den Kieselstrand, während der Wind zwischen Wasser und Erde ein melancholisches Adagio spielte. Max hatte die Schuhe ausgezogen und stand mit nackten Füssen bis zu den Knöcheln im Wasser. Sein Blick verlor sich auf der sich kräuselnden Oberfläche des Sees, derweil er seine Fassungslosigkeit von vorhin kaum zu verbergen vermochte.
Sie hatten mit Milagros im Garten diniert, nachdem sie die Chinesen darauf vertröstet hatten, über ihren Auftrag nachzudenken. Milagros hatte Max darüber aufgeklärt, dass sie nur diese Sprache verstünden. Keine sofortige Zusage. Sie wollten sich am darauffolgenden Tag wieder treffen. Nach dem Nachtessen hatte Fede Max aus Interlaken hinaus Richtung Unterseen gelotst und von dort ans östliche Ufer des Thunersees, nach Neuhaus.
Manor Farm war ihr Ziel gewesen. Ein Park direkt am See. Bevor Max begriffen hatte, dass er das Tor auf einen Campingplatz passierte, befanden sie sich vor einem farbigen Zelt. «Da ist es», hatte Fede frohlockt. «Hier werden wir die nächsten Tage verbringen.»
Seit der Zeit, als er bei den Pfadfindern gewesen war, hatte Max in keinem Zelt mehr geschlafen und nie ein Bedürfnis danach verspürt. Damals war er zwölf, und es war Dads Idee gewesen. Er müsse erfahren, wie es sei, in einfachen Verhältnissen zu leben, er, der mit sämtlichen Privilegien, die Reichtum mit sich brachten, aufgewachsen war. Wenn sich Ameisenstrassen über den Boden in seinen Schlafsack bewegten, hatte Max es mutig zugelassen. Auch den Gestank im Zeltinnern, der an nasse Socken erinnerte.
Ein Zelt! Wie konnte Fede ihm das antun?
«Willst du für den Rest des Abends schmollen?» Sie war an seine Seite getreten. In ihren knappen Shorts und dem bauchfreien weissen Top sah sie hinreissend aus. Sie hatte sich im Zelt kurz umgezogen. «Es ist Sommer, es ist warm», sagte sie. «Wenn es dir lieber ist, können wir auch unter freiem Himmel schlafen.»
«Ungeziefer inklusive.» Max war nicht danach.
«Das ist einer der Gründe, weshalb ich nicht in einem Hotel übernachten wollte. Es hätte freie Zimmer gehabt. Aber nachdem ich vernommen hatte, dass diverse Gasthäuser in Interlaken gegen eine Bettwanzenplage anzukämpfen haben, entschloss ich mich, auf den Campingplatz auszuweichen. Und für das Geld, das wir gegenüber einer Hotelübernachtung sparen, können wir toll essen gehen.»
«Dieses Argument lasse ich nicht gelten, zumal uns Milagros für die Dauer des ganzen Aufenthaltes ins Hotel Victoria-Jungfrau eingeladen hat. Du hast gehört, was sie sagte.»
«Jeden Abend ein Champagner-Dinner. Wir sind nicht zum Vergnügen hier.»
Max verliess die Uferzone. Er liess sich weiter hinten auf einer Bank nieder. Fede folgte ihm, setzte sich ins Gras. «Was hältst du von den Chinesen?» Sie streckte die Beine, stützte die Hände seitlich auf und schüttelte ihre rote Mähne in den Nacken. Die untergehende Sonne liess ihr Gesicht leuchten.
«Mich stört, dass sie keine Vermisstenmeldung aufgegeben haben», sagte Max.
«Die Asiaten ticken eben anders als wir.»
«Trotzdem ist mir nicht wohl bei dem Gedanken.»
«Was ist mit dir los? Warum auf einmal so vorsichtig? In den letzten Monaten hast du es dir abgewöhnt, immer alles zu hinterfragen. Nun präsentiert uns Milagros einen fetten Braten, und du ziehst … sorry, das sage ich nicht.» Fede wandte den Blick ab, als wäre ihr das Thema zuwider.
Was hätte er antworten sollen? In seiner Laufbahn als Detektiv hatte Max erst zweimal einen Job bekommen, der sich finanziell lohnte. Um zu überleben, hatte er bislang mit lapidaren Fällen vorliebnehmen müssen. Die meisten seiner Aufträge waren Routine. Vom Bespitzeln untreuer Lebenspartner hatte er sich wider sein Vorhaben nicht distanziert. Es bot ihm die Basis für einen gesicherten Lohn. Auch gelegentliche Einsätze in Einkaufszentren oder das Aufsuchen geschiedener zahlungsunwilliger Väter. Ab und zu beriet er Leute in rechtlichen Belangen, die sich einen teuren Anwalt nicht leisten konnten. Im Frühling hatte er eine Kindesentführung aufgedeckt. Dieses Drama hatte ihn arg gebeutelt, zumal es sich um einen Scheidungskampf handelte, bei dem das Kind der leidtragende Part war. Max wusste, warum er sich damals als Anwalt nicht auf Scheidungen spezialisiert hatte.
Er sah in Gedanken den Vorschuss auf dem Handydisplay des Chinesen. Mit diesem Betrag würde er zumindest wieder entspannter in die Zukunft blicken können. Es war bloss ein Vorschuss. Was bei einer positiven Entwicklung der Dinge herausschauen würde, darüber hatte er sich mit den Männern nicht unterhalten. Sie hatten wenig miteinander gesprochen oder bloss über das Essen. Es war mehr ein gegenseitiges Abtasten mit den Augen gewesen, das Lesen der Körpersprache. Die Brüder Xìngshì hatten den Apéro bezahlt und sich verabschiedet.
«Woran denkst du?» Fede riss Max in die Gegenwart zurück. Sie hatte sich aus dem Gras erhoben und stand nun hinter ihm, wo sie ihre Arme um ihn schlang.
Max genoss diesen Augenblick. «Angenommen, du wärst ich. Wie würdest du reagieren, wenn deine Frau spurlos verschwindet?»
«Ich würde selbstverständlich nach ihr suchen, es der Polizei melden.»
«Siehst du. Es ist das, was mich misstrauisch macht.» Max sah hinaus auf das Wasser, welches von der Dunkelheit verschlungen wurde. In der Ferne tanzten Lichtpunkte. «Die beiden Männer warten, lassen Stunden und zuletzt zwei ganze Tage verstreichen. Sie bleiben nicht bloss ruhig, nein, es eilt nicht einmal.»
«Noch wissen wir absolut nichts. Und so ruhig, wie du es sagst, waren die nicht. Sie konnten es nur nicht zeigen. Ihre Emotionslosigkeit, wie sie uns vorkommt, ist nichts anderes als eine anerzogene Tugend.»
«Sie hätten uns zumindest etwas erzählen können. Ihnen war es wichtig, uns den Vorschuss zu präsentieren.»
«Da sieht man, wie viel wert ihnen die Frauen sind.» Fede liess ihn los. «Komm, wir gehen zum Zelt.»
Max löste sich vom Blick auf den See, von der Bank, den Geräuschen um sie herum und folgte Fede Richtung Park, wo die Zelte und Wohnwagen standen. Die Campinggäste hatten ihr Leben auf die Plätze davor verlagert, sassen an Tischen, standen um Feuerstellen, hingen in Hängematten zwischen Baumstämmen. Kinder tollten herum und kreischten.
Max mochte den Rummel hier nicht. Als ein wohlbeleibter Mittfünfziger ihn zum Bier einlud, lehnte er freundlich ab. Auf keinen Fall wollte er mit den Leuten auf Tuchfühlung gehen. Anders sah es Fede. Sie grüsste in alle Richtungen und schien es zu geniessen, wenn ihr die Frauen neidische Blicke zuwarfen.
Ihr Zelt stand etwas abseits vor einer Baumreihe, neben einem Tipi, das junge Camper aufgestellt hatten, die vor ihrem Grill sassen und aus Flaschen tranken. Auf dem Boden stand eine Musikbox, aus der eine kindliche Stimme piepste, die am oberen Ende der Tonleiter lag, begleitet mit einem elektronischen Beat. Die Stimmung unter ihnen war ausgelassen und heiter.
Fede zog den Zipper an der Zeltwand auf. Max betrat den Eingangsbereich, in dem sich eine kleine Kochnische mit einem Gasherd und einem Kühlschrank befand. Es roch nach schwüler, feuchter und abgestandener Luft. Zwei Schlafkabinen, ausgestattet mit Feldbetten, nahmen die hintere Wand ein. Fede hatte bereits die Schlafsäcke in einem der Abteile hingelegt, dorthin, wo das breiteste Bett stand. Durch die dünnen Stoffwände drangen Stimmen.
«Cool, nicht?» Fede schwang sich rücklings auf die Doppelpritsche, streckte alle viere von sich.
Max erwiderte nichts. Das hier war definitiv nicht seine Welt. Die Duschkabinen und Toiletten befanden sich hundert Meter neben ihrem Zelt. Max graute davor, nachts mit einer Taschenlampe zwischen fremden Zelten dorthin zu gelangen. Er erinnerte sich an Fedes perfides Grinsen und wusste nun, was sie damit hatte ausdrücken wollen: pure Schadenfreude.
«Hi, Freaks!»
Den Typen unter