Interlaken. Silvia Götschi
das du nicht weisst. Die Chinesen sind fleissig. Ohne konstantes Lernen schafft es niemand, von den jährlich zehn Millionen Prüflingen die nationale Zulassung oder eine Bestnote zu bekommen, die eine Chance auf einen der wenigen Plätze an den besten Hochschulen des Landes in Aussicht stellt. Ich habe gelesen, dass weniger selbstständiges Denken als abrufbares Wissen gefragt ist. Bereits im zarten Alter von zwei Jahren rückt Lernen für chinesische Kinder in den Vordergrund. Im Kindergarten müssen sie sich die komplizierten Schriftzeichen einprägen, lernen nebst Addieren und Subtrahieren auch Multiplizieren und Dividieren. Sie sind ihren westlichen Altersgenossen weit, sehr weit voraus. Die Xìngshìs hatten es mit ihrem Ehrgeiz geschafft, durften in Europa studieren, es in Peking umsetzen und kamen dadurch zu einem grossen Vermögen.»
«Und das steht auch in der Suchmaschine?», fragte Max mit einem sarkastischen Unterton. China war ihm so fremd wie einem Pinguin der Nordpol.
«In China wird alles erfasst, was das Volk betrifft. Nirgends auf der Welt werden die Menschen dermassen kontrolliert wie im Reich der Mitte.»
«Aber es muss nicht zwangsläufig im Netz breitgeschlagen werden.»
«Es ist nicht für jedermann einsehbar. Man muss wissen, wo suchen.» Fede grinste ihn an. «Ehrlich gesagt, mir gefällt dieses Land und wie es geführt wird.»
«Auf Kosten der persönlichen Freiheit.»
«Für den Fortschritt, die Wirtschaft und ihre Vision für die Zukunft. Peking ist die Stadt der Milliardäre und hat New York längst eingeholt.»
«China bleibt für mich die gelbe Gefahr.» Max beeilte sich, um zu den sanitären Einrichtungen zu gelangen.
«Max, du bist unmöglich», rief Fede ihm nach.
***
Das Grandhotel erschien wie einbalsamiert. Pastellfarben schimmerten die Fassaden, von den ersten Sonnenstrahlen wach geküsst.
Max hatte seinen Mustang gegenüber auf der Hauptstrasse geparkt, hinter einer Kutsche mit Einspänner, die für eine Rundfahrt durch Interlaken warb. Er stieg aus und ging zu Fede, die bereits ausgestiegen war und am Strassenrand auf ihn wartete.
«Hast du gewusst, dass das Hotel Victoria-Jungfrau aus zwei verschiedenen Hotels besteht?», fragte sie, derweil sie einen bewundernden Blick auf den Belle-Époque-Bau warf. «Eduard Ruchti liess 1865 aus der ehemaligen Pension Victoria einen Neubau errichten und erwarb später das nebenan stehende Hotel Jungfrau. 1899 verband er die beiden Gebäude durch einen Mittelbau miteinander und setzte eine Kuppel darauf.»
«Deshalb der Name.» Max griff nach Fedes rechtem Arm. Er zog sie über die Strasse, haarscharf hinter einem fahrenden Auto vorbei.
Milagros erwartete sie unter dem überdachten Eingang, wo gewöhnlich die Statussymbole anhielten. Heute war der Platz leer. Einzig ein silbergrauer Porsche 911 Carrera war neben der Blumenrabatte geparkt. Gäste des Hotels konnten ihn nach Bedarf mieten.
«Oh, ein reizendes Kleid, schöner als …» Milagros vermochte sich von Fedes Anblick kaum zu erholen. Offenbar hatte Fede ihren Geschmack getroffen. «Xìngshìs erwarten uns im Foyer. Bitte, tretet ein.»
Die Halle hinter dem Eingang repräsentierte eine Mischung zwischen kühler Eleganz und grosszügiger Architektur. Helle Säulen dominierten im Schein moderner Lichtquellen. Das Ende des Foyers schmückte eine Fensterfront mit dunklen Sprossen. Durch die Scheiben schimmerte das Blattgrün verschiedener Pflanzen. Der Boden war mit schwarzen und weissen Fliesen ausgelegt.
Die Chinesen sassen auf einem der schwarz-weiss gestreiften Sofas. Im Vergleich zum Vortag trugen sie dunkle lange Hosen und feuerrote, gebügelte Hemden. Augenscheinlich wollten sie einen respektvollen Eindruck hinterlassen. Sie erhoben sich beide gleichzeitig, streckten ihre Hand zum Gruss aus.
«Bitte setzen Sie sich», sagte Xìngshì Dan. Er hatte nebst seiner agilen Gestalt ein Muttermal links am Kinn. «Haben Sie schon gefrühstückt?»
Max bejahte und setzte sich den Männern gegenüber auf einen von drei Sesseln.
Fede und Milagros liessen sich ebenfalls nieder und bestellten Tee bei einem Serviceangestellten, der die ganze Zeit um sie herumgetänzelt war.
«Wie geht es Ihnen?» Wieder Xìngshì Dan.
Max erinnerte sich, was Fede ihm über die chinesische Kommunikation erzählt hatte. Dass die Chinesen generell mehr Wert auf den Interaktionsprozess legten, als gleich zur Sache zu kommen. Nie würden sie mit der Tür ins Haus fallen.
«Danke, gut.» Max war nicht nach Small Talk.
«Ihre Frau Mutter sagte uns, Sie seien Anwalt gewesen.»
Das bin ich immer noch, dachte Max. «Bis vor vier Jahren, das ist richtig.»
«Sie haben also alle guten Voraussetzungen für unser Anliegen.» Xìngshì Dan schenkte ihm ein Lächeln.
«Haben Sie es sich übellegt?», fragte Xìngshì Lian.
Max sah kurz zu Fede, die ihm zunickte. «Wir nehmen Ihren Auftrag an.» Auf den Verdacht, dass die Chinesen vieles zurückhielten, was Max und Fede hätten wissen müssen, wollte er nicht zu sprechen kommen. Wahrscheinlich lag es im Naturell der Männer, sich geheimnisvoll zu geben. In seiner Karriere als Anwalt hatte Max nicht oft mit Chinesen zu tun gehabt. Er musste seine Vorurteile ablegen, wollte er die Männer verstehen. Fede hatte mit ihrer Meinung recht gehabt, dass sie anders dachten als die Schweizer oder Europäer. Ultimative, kompromisslose und konfrontative Argumentationen seien nichts für Chinesen. Max griff nach seiner Mappe, die er mitgebracht hatte, holte einen A4-Block und einen Schreibstift daraus hervor. «Ich muss alles über Ihre Frauen wissen, bevor wir mit der Suche beginnen können. Haben Sie ein aktuelles Foto von ihnen?»
Xìngshì Dan reichte Max ein Bild, das er seinem Portemonnaie entnommen hatte. «Die links ist Shenmi, meine Frau, die rechts ist Yuyun, Lians Angetraute. Sie sind beide dreissig Jahre alt.»
Max nahm das Foto entgegen und sah auf das Brustbild zweier junger Chinesinnen, deren Schönheit ihn überwältigte. Puderig helle Haut, eine schmale, nach den Seiten und oben auslaufende Augenform, in denen die schwarzen Iriden dennoch gross wirkten. Glänzende halblange schwarze Haare hatten beide und ein Lächeln, das ansteckte. Der Mund war klein, die Kinnpartie schmal und die Nase zierlich. Als das Foto aufgenommen worden war, mussten sie sehr glücklich gewesen sein. Im Hintergrund waren die verwischten Konturen eines Palastes zu erkennen. «Ist das Bild neueren Datums?»
«Mein Bruder hat es vor vier Jahren in Yiheyuan aufgenommen.»
«Sie haben keine neue Aufnahme?» Max konnte es nicht glauben, weil Asiaten alles fotografierten, was ihnen vor die Linse geriet.
«Erzählen Sie uns, wann Sie Ihre Frauen zum letzten Mal gesehen haben», mischte sich Fede ins Gespräch. «Wie waren sie angezogen? Was trugen sie mit sich? Taschen, Rucksäcke?»
«Sie sagten, im Freilichtmuseum Ballenberg», meldete sich Milagros, die bis anhin nur zugehört hatte, zu Wort.
«Ja, ja, in Ballenbelg.» Xìngshì Lian lächelte in die Runde, als würde er die Tragweite seines Verlustes nicht begreifen. «Da elfählt man vieles übel die Schweiz.» Er hüstelte. «Shenmi und Yuyun tlugen blaue Kleidel, Handtaschen, so kleine –»
«Leider reichte die Zeit nicht, um alle Plätze und Häuser zu besuchen», wich Xìngshì Dan aus und warf seinem Bruder einen einvernehmlichen Blick zu. «Uns blieben bloss zwei Stunden. Danach waren wir eine ganze Stunde damit beschäftigt, nach Shenmi und Yuyun zu suchen. Sie hatten sich irgendwann von unserer Gruppe entfernt oder sich verlaufen.»
«Wann war das?»
Xìngshì Dan kniff den Mund zusammen und schien zu überlegen. «Wir kamen am letzten Samstag um eins mit dem Bus beim Eingang Ost beim Ballenberg an. Wir waren insgesamt dreissig Leute, die sich in zwei Gruppen aufteilten. Die andere Hälfte fuhr weiter zum westlich gelegenen Eingang des Museums. Mein Bruder und ich blieben mit unseren Frauen auf der Ostseite und starteten von dort aus. Wir hatten je einen Reiseführer.»
«Könnten