Interlaken. Silvia Götschi
Filmcrew des Schweizerischen Coiffeurmeisterverbands hier gewesen. Sie drehten für eine Werbekampagne. Sie glaubt, Leo, ihr Sohn, habe die Szenerien auf seinem iPhone gespeichert. Leo sei so etwas wie Mädchen für alles, ein junger Mann mit einer minimalen Beeinträchtigung, was immer das heissen mag. Gabi sagte, sie sei froh, könne er ihr hier zur Hand gehen. Sein Hobby sei fotografieren und filmen. Vielleicht haben wir Glück, und er hat Shenmi und Yuyun auf einem Foto verewigt.»
«Das wäre pures Glück. Und wo ist dieser Leo?» Max bemühte sich, seine Ungeduld im Zaum zu halten.
«Gabi holt ihn. Ach ja, damit ich es nicht vergesse: Eine Dame hat auf mein Handy angerufen und nach dir verlangt. Keine Ahnung, woher sie die Nummer hat. Ihre Colliehündin sei abgehauen. Sie fragte, ob du sie nicht suchen könntest.»
«Nicht dein Ernst.»
«Sie meinte, dass Detektive sicher auch dazu da wären.» Fede schmunzelte.
«Du hast ihr hoffentlich erklärt, dass es nicht möglich ist.»
«Ich habe sie an Luk Herger verwiesen.»
«An unsere Konkurrenz.» Max verkniff sich ein schallendes Lachen.
Der Coiffeursalon präsentierte sich als Sammelsurium mit zum Teil haarsträubenden Utensilien zwischen unbequemen Holzstühlen über verschieden grosse Kämme bis hin zu Flaschen mit Pumpvorrichtung und Zerstäuber. Das absolute Highlight fand Max den Lockenwickler für Dauerwellen, der etwas Futuristisches vermittelte und gewiss nicht ohne Angstzustände auszulösen zum Einsatz gekommen war. In einem anderen Zusammenhang hätte er die Vorrichtung als Folterinstrument betrachtet.
«Das ist Leo.» Unter dem Türrahmen zum Salon erschienen eine mollige kleine Frau, die auf die fünfzig zuging, und ein Junge. «Und ich bin Gabi.» Sie wandte sich an Max. «Ihre Freundin hat mir bereits mitgeteilt, dass Sie kommen.»
Max reichte ihr das Foto mit den Chinesinnen. Schnell sah er Fede an, war gerade etwas perplex ob der schnellen Auffassung. «Diese zwei Frauen waren am Samstag in Begleitung einer Gruppe von asiatischen Touristen hier. Erinnern Sie sich an sie?»
Gabi gab das Bild an Leo weiter. «Er hat ein fotografisches Gedächtnis», sagte sie und an ihren Sohn gewandt: «Schau dir die Frauen genau an. Waren die gestern hier?»
Leo sah zwischen Max und Fede hin und her, als würde er an einem Pingpongmatch den Ball verfolgen. Seine Augen waren dauernd in Bewegung. Er hatte Mühe, einen Punkt zu fixieren. Er war ein zerbrechlicher Junge und, wie Max erfuhr, noch nicht einmal siebzehn Jahre alt, dünn wie ein Spargel und ebenso hochgeschossen. Er sah auf das Foto, kurz nur, bevor sich die Iriden wieder in alle Himmelsrichtungen bewegten. «Die waren da.» Er lächelte und eine Reihe eingezäunter Zähne kam zum Vorschein.
Max konnte es nicht nachvollziehen, dass er in dieser kurzen Zeit die Gesichter erkannt hatte. «Schau dir das Bild genau an.»
«Ich habe es angeschaut. Die waren da.» Leo präsentierte Max das iPhone, das er auf dem Rücken verborgen gehalten hatte. Er fuhr über den Touchscreen und wählte die Foto-App aus. Dort tippte er eines der Videos an.
Unmittelbar sah sich Max einer etwas wirren Bildabfolge gegenüber. Leo suchte nach dem Ausschnitt, auf dem zwei Chinesinnen zu sehen waren. Sie lehnten ans Brückengeländer beim Bach und steckten die Köpfe zusammen. Erst als sie bemerkten, dass sie gefilmt wurden, sahen sie auf, lachten jedoch nicht in die Kameralinse. Eine von den Frauen hielt sogar die Hände vors Gesicht.
«Schau dir das Video an und vergleiche es mit dem Foto», bat Max Fede. «Sind das Shenmi und Yuyun?»
«Das könnten x-beliebige Chinesinnen sein … hm, sie tragen dunkle Kleider.» Fede wandte sich an Leo. «Ist das alles?»
«Nein, noch mehr.» Leo suchte ein anderes Video. Auf den Bildern erschienen wieder die Frauen, diesmal zusammen mit einer Gruppe von Männern.
«Halt, das könnte Xìngshì Dan sein. Dieses Muttermal am Kinn … so eines hat er.» Max vergewisserte sich, um welche Zeit der Film aufgenommen worden war. «Dreizehn Uhr vierunddreissig», sagte er an Fede gewandt. «Das heisst, sie gingen erst im Nachhinein zum Wyssesee.» Er deutete auf das Video. «Das ist wirklich ein Zufall, dass Leo sie filmisch eingefangen hat.»
«Darf ich mal?» Fede bat um das iPhone, das Leo nur widerwillig aus der Hand gab.
«Sie haben sein Herz gewonnen», sagte Gabi dagegen. «Leo hütet sein iPhone, als wäre es ein Heiligtum.»
«Gibt es noch mehr Videos, auf dem diese Frauen zu sehen sind?», fragte Fede, Gabi ausser Acht lassend.
Leo nickte heftig. «Das drittletzte … Das war im Wald.»
«Vierzehn Uhr sechsundvierzig», stellte Fede fest, während sie das Video betrachtete.
Max sah es sich auch an. Leo hatte die Frauen eine geraume Zeit über den Waldweg begleitet. Ob sie ihm gefallen hatten? Nicht immer hatte er sie im Visier. Zwischendurch schweifte er ab und blieb in den Baumkronen hängen, als hätte er dort oben unter dem Himmel etwas Spannendes entdeckt. Auch andere Besucher hatte er aufgenommen. Danach war er augenscheinlich zur Filmequipe zurückgekehrt. Das letzte Video zeigte Ausschnitte ihrer Arbeit auf dem Set rund um die Riegelhäuser des Ostschweizer Teils.
«Könntest du uns die Videos und Bilder übermitteln?», fragte Max an Leo gewandt.
«Alle?» Leo bekam Stielaugen. Dann nickte er. «Tun Sie es.»
Max öffnete WhatsApp auf Leos iPhone, tippte seine eigene Handynummer ein und sendete das Bildmaterial. «Danke, das hast du gut gemacht.» Er gab das Gerät zurück, überreichte ihm eine Zehnernote als Belohnung und drehte sich nach Fede um. «Gehen wir zum Wyssesee», schlug er vor. «Vielleicht finden wir dort einen Hinweis.»
«Sie könnten aber zurückgekehrt sein», vermutete sie. «Ihre Männer sagten, sie hätten sie um zwei Uhr aus den Augen verloren.»
«Dann verrate mir, wann sie ins Sachseln-Haus gingen, wenn sie denn dort übernachtet haben. Das Museum schliesst nachmittags um fünf. Was glaubst du, haben sie in der Zwischenzeit getan?»
«Sie mussten sich versteckt haben», sagte Fede. Sie zögerte. «Noch ist nicht sicher, dass sie dort übernachtet haben.»
«Wer könnte denn sonst dort geschlafen haben, wenn nicht sie?»
«Du verbohrst dich in etwas. Möglicherweise sind sie zum Osteingang zurückgegangen.»
«Oder sie fanden eine andere Unterkunft. Vielleicht sollten wir uns die Hotels rund um den Ballenberg ansehen.»
Fede griff nach ihrem iPhone und tippte etwas ein. «Okay», sagte sie nach einer Weile. «In Brienzwiler gibt es das Hotel Bären und in Hofstetten die Alpenrose. Möglicherweise auch diverse Appartements. Ich rufe dort mal an.»
DREI
«Wir haben nicht die Möglichkeit, nach den Frauen zu fahnden, wie die Polizei es tun würde», bemerkte Max, als sie zurück nach Interlaken fuhren. Er war frustriert, nachdem sie in den Hotels und anderen Unterkünften keine positive Antwort bekommen hatten.
Die Sonne stand im Zenit. Das Thermometer war auf fast dreissig Grad geklettert.
Fede schob den Saum ihres Kleides über die Knie, liess den Fahrtwind über ihre Beine streichen. «Die Chinesen müssen uns mehr Informationen liefern.»
«Ich bringe den Gedanken nicht los, dass hier etwas faul ist an der ganzen Sache. Vielleicht wiederhole ich mich, aber wenn zwei Ehefrauen, die sich in der Gegend überhaupt nicht auskennen, verschwinden, wäre doch der erste Schritt der zur Polizei oder ein Anruf aufs chinesische Konsulat in Zürich oder die Botschaft in Bern.»
«Tatsächlich könnte mehr dahinterstecken», mutmasste Fede. «Eine Entführung? Wir wissen noch nicht einmal, welche Geschäfte die Chinesen tätigen. Ob sie die Berufe, für die sie einst studierten, noch immer ausüben.»
«Ich ging davon aus, dass du das abgeklärt hast.»
«Eine