Interlaken. Silvia Götschi

Interlaken - Silvia Götschi


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der sich bei näherem Hinsehen als Reiseinformation herausstellte. «Chen Akuma begleitete die erste Gruppe, Li Zuko die zweite.»

      «Dann wanderten Sie durch das Freilichtmuseum», sagte Max. «Und beendeten den Weg beim Westausgang.»

      «Das war zwei Stunden später. Die andere Gruppe bewegte sich in entgegengesetzter Richtung.»

      «Das war dann etwa um drei Uhr. Wann bemerkten Sie, dass Ihre Frauen nicht mehr neben Ihnen gingen?»

      «Zeitlich wissen wir es nicht genau», beantwortete Xìngshì Dan die Frage. «Aber auf der Höhe des …», er zögerte, als überlegte er sich, womit er weiterfahren wollte, «Wyssesees fragte mich mein Bruder zum ersten Mal, ob ich Yuyun gesehen hätte.»

      «Wil machten uns zuelst keine glossen Solgen», sagte Xìngshì Lian. «Die Gluppe hatte sich velzettelt.»

      «Aber als wir sie beim Westausgang nicht antrafen, fragten wir uns, wo sie geblieben waren.» Xìngshì Dan fuhr sich mit der rechten Hand über den Mund. «Herr Chen, mein Bruder und ich gingen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. Chen meinte, dass die Frauen vielleicht mit einem Taxi nach Interlaken gefahren seien, nachdem sie uns aus den Augen verloren hatten.»

      Max konnte es nicht nachvollziehen.

      «Haben Sie sich bei der Kasse am Ausgang erkundigt», fragte Fede, «ob jemand die Frauen hat weggehen sehen?»

      «Ja sicher. Leider ohne Erfolg. Shenmi hatte einen Reiseplan bei sich. Sie standen nicht ganz auf verlorenem Posten. Aber», Xìngshì Dan starrte vor sich hin, «im Hotel sind sie nie angekommen.» Während er dies sagte, blieben seine Gesichtszüge wie gemeisselt.

      «Sind Ihre Frauen zum ersten Mal in der Schweiz?» Max sah, wie sich die Brüder Xìngshì überrascht ansahen, als wögen sie ab, welche Antwort sie zu geben gedachten.

      «Zum ersten Mal», sagte Xìngshì Dan schliesslich. «Sie kennen sich hier nicht aus.»

      «Ich gehe davon aus, dass sie ein Mobiletelefon besitzen.»

      «Selbstverständlich. Wir haben mehrmals versucht, sie zu erreichen, Shenmi und Yuyun müssen es ausgeschaltet haben.»

      Oder man hat es zerstört, sinnierte Max.

      «Wie ist es mit der deutschen Sprache?», fragte Fede.

      «Sie sprechen kein Deutsch, vorwiegend Mandarin … und …»

      «Und?»

      «Kantonesisch, das ist ihre Muttersprache.»

      «Englisch?»

      «Ein bisschen.»

      «Haben Sie Freunde in Interlaken?»

      «Lian und ich haben Freunde hier, aber rein geschäftlicher Natur.»

      «Und Ihre Frauen?»

      «Sie haben keine Fleunde hiel», sagte Xìngshì Lian, was sein Bruder bestätigte.

      Max überlegte, ob die Ferien in der Schweiz ein Vorwand waren. «Sind Sie persönlich oft in Interlaken?»

      «Wie müssen wir das verstehen?» Xìngshì Dan rutschte auf dem Sofa ein wenig nach vorn. Eine erste Unsicherheit?

      «So, wie ich gefragt habe», sagte Max. Milagros warf ihm einen tadelnden Blick zu. Er kapierte, dass er sich zusammenreissen musste. Hier hatte er es mit einer fremden Mentalität zu tun, die zu durchschauen eine weitere Aufgabe sein würde. Max zweifelte, ob er seinen Mandanten gewachsen war.

      Als Xìngshì Lian sein Checkheft hervorholte, wusste Max, dass es keinen Weg zurück gab. Der Chinese reichte ihm den Check und forderte eine Unterschrift als Bestätigung der Übergabe. Max sah auf den Betrag. Er zögerte. Ob es richtig war? Fede stiess ihm sanft in die Seite. Mach schon!, sollte es wohl bedeuten. Max griff nach seinem Kugelschreiber und setzte die Unterschrift auf eine Quittung. Ihm entging dabei nicht, wie die Brüder einander zufrieden anschauten. Später unterzeichnete er auch den Vertrag, mit dem Versprechen, alles zu unternehmen, um die Frauen unversehrt ihren Männern zurückzubringen. Max war angespannt.

      «Wir werden den Weg von Yuyun und Shenmi rekonstruieren», sagte Fede, die es augenscheinlich verstand, die Situation zu entspannen. «Aber dazu bräuchten wir ein paar Informationen mehr. Sie erwähnten, dass es Freunde in Interlaken gibt, die Sie durch Ihren Beruf kennengelernt haben.»

      «Das ist lichtig.» Xìngshì Lian steckte das Checkheft und den Vertrag in seine mitgebrachte Mappe.

      «Teilen Sie uns die Namen mit?»

      «Die sind nicht relevant», sagte Xìngshì Dan. «Und was hat dies mit dem Verschwinden unserer Frauen zu tun?»

      Vielleicht mehr, als ihr denkt, überlegte Max. Dennoch hielt er es für unangebracht, die Chinesen weiter auszuhorchen. Es war seine Aufgabe, das Vertrauen der Männer zu gewinnen. Er durfte auf keinen Fall forcieren. Alles andere würde sich von allein ergeben.

      Fede jedoch wollte mehr in Erfahrung bringen. «Könnte es sein, dass», sie deutete Anführungs- und Schlusszeichen an, «Ihre Freunde etwas mit dem Verschwinden Ihrer Frauen zu tun haben?»

      «Nein.» Xìngshì Lian blieb reglos sitzen. «Wie kommen Sie dalauf?»

      «Welche Geschäfte verfolgen Sie, wenn Sie in Interlaken, überhaupt in der Schweiz sind?»

      «Das ist nicht wichtig.» Xìngshì Dan verzog keine Miene.

      «Wir versuchen bloss, einen Grund für das Verschwinden von Shenmi und Yuyun zu finden.»

      «Dessen sind wir uns durchaus bewusst», entgegnete Xìngshì Dan. «Glauben Sie mir, das eine hat mit dem andern nichts zu tun.» Er entnahm seiner Brieftasche eine Visitenkarte und reichte sie Max, indem er sie mit beiden Händen hielt und sich nach vorn beugte.

      «Können Sie sich denn einen Reim darauf machen, weshalb die Frauen weg sind?» Max sah interessiert auf die Visitenkarte, die er ebenfalls mit beiden Händen entgegennahm. Er hatte gelernt, sie nicht gleich wegzustecken. Ein so opulent gestaltetes personifiziertes Aushängeschild hatte er nie zuvor gesehen. Der Name war das Einzige, was nicht in chinesischer Kalligrafie geschrieben stand. Die Karte selbst war in einem glänzenden Rot, die Schrift darauf in Gold und Schwarz. Max sah Xìngshì Dan an.

      Auf dessen Gesicht zeigte sich kaum eine Regung. «Wenn wir dies wüssten, wären Sie nicht hier.»

      ***

      «Hätte man die Polizei eingeschaltet, hätte sie die Frauen mit der Hundestaffel suchen können.» Fede war sichtlich empört. «Warum wurde das unterlassen?»

      «Das werden wir bestimmt herausfinden», sagte Max und fragte sich, warum es dem Hoteldirektor so wichtig war, die ganze Angelegenheit ohne grosses Aufheben zu behandeln. Nach der Besprechung war er zu ihnen gekommen und hatte ihnen Kaffee und Tee offeriert. Die chinesischen Gäste seien ihm sehr wichtig, er wünsche sich Diskretion. Polizei im Haus könne er sich nicht leisten.

      «Die Männer sind bereit, uns viel Geld zu bezahlen», gab Fede zu bedenken und riss Max aus seinen Gedanken. «Auch wenn sie es günstiger haben könnten.»

      «Ein Glück für uns.» Max hatte letztendlich nicht lange gebraucht, um sich mit der Idee einer Personenfahndung anzufreunden. Dieser Fall war ein Novum für ihn, bedeutete einen Schritt vorwärts in der Karriere als Privatdetektiv. Wenn es ihnen gelingen würde, die Frauen zu finden, wäre das ein Stern mehr im Portfolio der Detektei.

      Sie fuhren den Brienzersee entlang über Ringgenberg, Nieder- und Oberried Richtung Brienz. Auf der Fahrt liess Fede ihrer erneuten Wut Luft, wobei Max nicht herausfand, ob es nur Theater war. Diesmal galt ihre Empörung nicht den Chinesen, sondern den Neubauten auf der rechten Strassenseite. «Ich habe diese Wohnsilos bereits gestern bemerkt. Da hat sich wohl jemand ein Denkmal setzen wollen.»

      «Wovon sprichst du?» Max gab sich naiv, warf in der Schnelle einen Blick zur Seeseite. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Strasse. Vor ihm tuckerte ein älteres Automobil über die Fahrbahn. Um zu


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