Interlaken. Silvia Götschi
und Indoor-Golf. Und einer Kita. Wenn ich mir die Dimensionen auf der Tafel dort anschaue, geht das unter Heimatverschandelung. Guck mal. Und der Name erst: ‹Residenz Schwansteinpark›, sicher in Anlehnung an das Schloss Neuschwanstein. Das grenzt an Grössenwahnsinn.»
«Reg dich doch nicht auf!» Max verlor allmählich die Geduld wegen des Autofahrers vor ihm. «Ist doch schön, am Brienzersee zu wohnen.»
«Am schönen Brienzersee», äusserte sich Fede sarkastisch, «in dem tonnenweise Munition und Kriegsbomben verrosten, die die Fische vergiften. Es ist nicht richtig. Das Stimmvolk hat damals die Zweitwohnungsinitiative angenommen, die verbietet, noch mehr Ferienwohnungen zu erstellen und zu verkaufen. Hier scheint man dieses Gesetz mit Füssen zu treten.»
«Beruhige dich.»
«Ich habe gelesen, es sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen und es habe etliche Einsprachen gegeben.»
«Was du nicht sagst.» Max hatte es am Rande mitbekommen, jedoch kein Bedürfnis, darüber zu diskutieren. Bei der Planung hatte es Anschuldigungen von verschiedenen Seiten gegeben, dass sich die Gemeinde aufgrund von Plänen, Fotomontagen und Unwahrheiten hinters Licht habe führen lassen. Von Vetternwirtschaft war die Rede gewesen, von Miststockpolitik und Korruption und in deren Zusammenhang von mafiosen Zuständen.
«Über hundertvierzig Millionen Franken soll es kosten.» Fede winkte ab. «Na ja, man wird wohl nicht gescheiter. Bin ich froh, lebe ich bescheiden auf meinem kleinen Bauernhof.»
Welch ein Vergleich. Max unterliess es, ihr zu erzählen, dass seine ehemalige Anwaltskanzlei mit solchen Bauprojekten viel Geld verdient hatte.
Sie passierten Brienz und fuhren nach der Höhe beim Lammbach auf die Lauenenstrasse und in der Folge über die Museumsstrasse, die sie nach Hofstetten führte. Der Westeingang zum Freilichtmuseum Ballenberg lag ausserhalb des Ortskerns.
«Warum fährst du nicht zur Ostseite?» Fede streckte gähnend die Arme in die Höhe.
«Weil es keinen Unterschied macht. Zudem liegt der Wyssesee gemäss Plan näher zur Westseite.» Max fand einen leeren Parkplatz unter einem der schattenspendenden Bäume, die wie dunkle Silhouetten den Himmel verdeckten.
«Warst du schon einmal da?» Fede stieg aus, warf einen Blick in den Seitenspiegel und wuselte wie immer mit den Händen durch ihre Haare. Sie setzte die Sonnenbrille auf.
«Als Kind wahrscheinlich. Aber ich habe den Parkplan studiert, bevor wir losfuhren.»
Damit, dass es beim Eingang einen Andrang von Besuchern geben würde, hatten sie rechnen müssen. Gruppen und Familien drängten zu den Kassen und den Drehkreuzen. Fede stellte sich in der Warteschlange an, um Tickets in Empfang zu nehmen. Max wartete geduldig, scannte die Umgebung akribisch. Neben dem Shop stand ein Polizeiwagen. Zwei Polizisten lehnten an der vorderen Hälfte der Karosserie, mit verschränkten Armen diskutierten sie, drehten immer wieder ihre Köpfe in Richtung Eingang. Max zwängte sich zwischen den Wartenden nach vorn in Fedes Nähe, was ein paar gehässige Kommentare auslöste. Er berührte ihren Arm. «Die Polizei ist da.»
«Ich habe sie gesehen.»
«Guten Tag. Willkommen im Open Air Museum Ballenberg.» Der junge Typ hinter der Kasse schenkte ihnen ein Lächeln und strich immer wieder die zu lang geratenen Stirnfransen aus dem Gesicht. Er hatte Pickel, eine Stupsnase und unbestritten Freude an seinem Job.
Max legte den rechten Arm auf den Tresen. «Zwei Tickets bitte.» Er deutete zum Parkplatz, wo der Streifenwagen stand. «Ein Einsatz?»
«Tja, wegen eines Vorfalls.» Der Mann reichte ihm die Tickets und nannte den Preis. «Die verschiedenen Veranstaltungen und die Zeiten finden Sie im Programmheft.» Er schob einen Flyer nach.
«Was für ein Vorfall?» Fede nahm den Flyer an sich.
«Im Sachseln-Haus wurde eingebrochen, gestern oder vorgestern.»
Max bezahlte. «Und das fällt erst heute auf?»
Der Mann wies nach hinten in die Reihe der Wartenden. «Mehr kann ich dazu nicht sagen. Sie sehen ja, was hier los ist.»
Max und Fede begaben sich zum Drehkreuz.
«Das kann kein Zufall sein, oder?» Fede ging voraus, zögerte und drehte sich um. «Hat er ‹eingebrochen› gesagt?» Sie faltete den Flyer auseinander. «Dann sollten wir da möglichst schnell hin.» Sie suchte nach dem Haus. «Die Nummer 711 ist es, liegt näher am Osteingang.»
Sie zogen los über eine kurze Waldstrecke. Die Strasse führte zum ersten Haus, das hinter einer Umzäunung und einer Flut von blühenden Sträuchern einen properen Eindruck erweckte.
«Das war einst die Villa des Textilfabrikanten Schafroth.» Fede blieb vor der angebrachten Informationstafel stehen. «Erbaut wurde sie 1872 in Burgdorf. Die Familie zelebrierte einen gepflegten Lebensstil.»
«Sieht wie ein Chalet aus», insistierte Max, der sich unter einer Villa etwas anderes vorstellte. Er drängte zum Weitergehen.
«Hier steht, dass der sogenannte Schweizerhausstil im neunzehnten Jahrhundert ein nationaler Erfolg war.»
Max ging die Strasse hinunter bis zur Kreuzung. Ein helles Haus mit braun-roten Jalousien zog nicht nur seine Aufmerksamkeit auf sich.
Fede war ihm nachgerannt. «Dieses Haus hier stammt aus Rapperswil und war ein klassischer Mehrzweckbau, der in einen Wirtschafts- sowie einen Wohnteil unterteilt war.» Sie zeigte auf die linke Seite des Weges. «Dort oben ist übrigens der Wyssesee.»
«Dorthin gehen wir nachher.» Max bat Fede, sich zu beeilen. «Wir haben nicht alle Zeit der Welt.»
Fede maulte etwas vor sich hin, was er nicht verstand.
«Weisst du, wo wir hier sind?», fragte er später. Sie hatten einen Platz erreicht, auf dem sich Rindvieh und Hühner tummelten und es nach Dung roch.
«Wir müssen zurück und den Wald entlang», sagte Fede. «Weiter unten liegt der Kanton Tessin mit dem Gutshof Novazzano. Soll das grösste Gebäude im Museum hier sein. Können wir uns zu einem andern Zeitpunkt ansehen.» Sie tat so, als wäre sie zum Vergnügen hier.
Der Weg führte über eine längere Strecke den Waldrand entlang. Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher und hellem Lachen. Auf halbem Weg kam ihnen eine Zweispänner-Kutsche entgegen. Darauf sassen Landfrauen in farbigen Trachten und liessen ihrem Übermut freien Lauf. Sie sangen zweistimmig, unterbrochen durch Zwischenrufe und Gelächter.
«So kennt man die Schweiz im Ausland», frotzelte Fede. «Idyllisch wie im vorletzten Jahrhundert. Bauernhöfe, Kühe, der Misthaufen vor dem Stall …»
«Und es ist offenbar eine grosse Faszination für chinesische Touristen. Schau, die sieht man hier überall.»
«Sie sind überall.» Fede marschierte zügig neben Max her. «Für sie muss die Schweiz wie ein Disneyland sein.»
«Genau, welches man im Schnelldurchlauf besucht, mit Zwischenhalt bei den Uhren- und Schokoladenboutiquen.»
«Ein Zeichen dafür, dass sie sich vorab über unser Land informiert haben. Sie kennen die neuralgischen Punkte, die Sehenswürdigkeiten und interessanten Orte. Du würdest es doch auch so machen, oder?»
«Für mich ist dieses Volk nicht fassbar.»
«Das rührt daher, weil du dich nicht mit ihm auseinandersetzt.»
«Das muss ich nicht zwangsläufig.» Für Max wurde das Gespräch zunehmend unangenehmer.
«Das solltest du aber. Wir haben einen Auftrag, bei dem es uns nicht egal sein darf. Um die Eigenart eines Volkes zu verstehen, müssen wir es kennenlernen.»
«Dazu habe ich dich.»
«Bist du immer so stur? Als Anwalt müsstest du eigentlich aufgeschlossener sein.»
Max tat so, als hätte er es nicht gehört.
Sie erreichten im Museumsgelände die «Zentralschweiz»,