Interlaken. Silvia Götschi

Interlaken - Silvia Götschi


Скачать книгу
Schlummertrunk?»

      Max stellte sich ihm in den Weg. «Nein, danke, kein Bedarf.»

      «Gerne, ja.» Fede war vom Bett aufgeschnellt. «Hi, ich bin Fede, und das ist Max. Er meint es nie so, wie er es sagt.» Sie wandte sich ihm zu. «Max, Darling. Es ist noch früh.»

      Max sah auf seine Armbanduhr, ein Geschenk seines verstorbenen Vaters. Halb elf. «Wir haben morgen einen Termin, schon vergessen?» Sein Satz ging völlig unter. Fede befand sich bereits auf dem Weg zum nachbarlichen Tipi. Max blieb nichts anderes übrig, als ihr nachzugehen, wollte er nicht als Spielverderber dastehen.

      Widerwillig grüsste er in die Runde. Vier Männer im Alter von fünfundzwanzig, alle mit Dreitagebärten, rückten etwas zur Seite, um den Neuankömmlingen Platz zu machen. Max bereute es bereits, sich darauf eingelassen zu haben. Wie selbstverständlich wurden zwei Slibowitzflaschen herumgereicht. Max gab sie weiter. Er mochte jetzt keinen hochprozentigen Pflaumenbrand. Er beschränkte sich auf eine Dose Bier, um nicht ganz aus der Reihe zu tanzen.

      «Was führt euch hierher?» Einer der Männer, er nannte sich John, deutete auf Max’ Boliden. «Eine ziemlich teure Karre für einen Zeltplatz … oder ist er geleast?» Er wartete eine Antwort nicht ab, grinste bloss und nahm wieder einen grossen Schluck Slibowitz. «Geht mich ja nichts an, aber einen Mustang und auf dem Beifahrersitz eine heisse Braut … was habt ihr vor?»

      Max hatte es satt, sich zum Narren machen zu lassen. Fede hatte bislang nicht viel gesagt, nur gelacht und tüchtig mitgetrunken. «Ich bin Anwalt», sagte er, wollte Eindruck schinden.

      «Ach, schau an, einer von den ganz Gescheiten.» John lachte laut heraus. Er hob die Flasche, die bei ihm angelangt war, und flachste in die Runde. «Keine Bange, Kumpel. Wir sind Hochschulabgänger, haben in Sankt Gallen Wirtschaft studiert und wollen noch einmal die Sau rauslassen, bevor es ernst gilt.» Er gestikulierte in alle Himmelsrichtungen. «Nach dem Sommer werde ich in einer Versicherung arbeiten. Meine Kollegen zieht es nach Übersee und Australien. Wir feiern den Abschied von unserem Studentenleben, prost.»

      Aus der anfänglich holprigen Konversation, vor allem zwischen Max und John, wurde ein feuchtfröhlicher Abend, der bis in die frühen Morgenstunden hineindauerte. Nachdem der Platzwart sich wegen des Lärms beschwert hatte, verlegten sie die Party ans Ufer und feierten dort weiter.

      Es war drei Uhr, als Max und Fede betrunken zu ihrem Zelt gingen. Fede schlief gleich ein, derweil Max an die Decke starrte und darüber sinnierte, welche Zeit er bei Alkohol und geistlosem Gerede vergeudet hatte. Hochschulabgänger. Davon war weder etwas zu hören noch zu sehen gewesen. «Lebe», hatte Fede Max geraten. «Geniesse den Moment.»

      Auf diesen Moment hätte er gern verzichtet. Der Kopf tat ihm weh.

      ZWEI

      Fede hantierte am Gasherd, als Max aus dem Schlafabteil kroch. Sie hatte das Radio auf Zimmerlautstärke gestellt und sang zusammen mit Rihanna und Kanye West.

      Wie machte sie das bloss? Frisch und ausgeschlafen schien sie, hatte sich ein langes ärmelloses Strandkleid übergezogen und die Haare hochgesteckt.

      Der Campingtisch vor dem Zelt war aufgedeckt. Ein farbiges Tuch, darauf Teller, Tassen und Besteck nebst Butter und frischen Buttergipfeln. «Die Omelette kommt auch gleich.» Fede küsste ihn flüchtig, als er an ihr vorbeiging.

      «Ich gehe duschen», sagte er und konnte ein Gähnen nicht vermeiden.

      «Setz dich hin, das kannst du nachher tun. Wir müssen uns beeilen. Milagros hat mich angerufen. Die Chinesen wollen uns bereits um acht Uhr treffen, also eine Stunde früher als besprochen.»

      «Und jetzt ist?»

      «Viertel nach sieben. Ich weiss doch, wie sehr du ein Frühstück brauchst … nach dieser Nacht.»

      Max setzte sich, überlegte, was Fede in der Nacht mit ihm angestellt haben mochte, entsann sich an nichts. Er strich sich durch das Haar, über das Gesicht und spürte die Bartstoppeln spriessen. Ohne Rasur konnte er unmöglich zu Milagros gehen. «Hat sie sonst noch etwas gesagt?»

      «Dass du dir nicht immer so viele Sorgen machen sollst.» Fede brachte zwei Teller mit der Eierspeise an den Tisch. «Und wir im Hotel frühstücken können.»

      «Dann verrate mir, warum du kochst.» Max setzte sich auf einen der Campingstühle, ohne das Tipi nebenan aus den Augen zu lassen. Die vier jungen Wilden, wie er sie insgeheim nannte, schliefen noch. Das Durcheinander an Badehosen und Badetüchern, leeren Slibowitzflaschen und Bierdosen war der stumme Zeuge eines nächtlichen Treibens, das ziemlich ausgeartet sein musste. Max erinnerte sich nicht genau, wie er vom Strand her zu ihrem Zelt gekommen war. Wann hatte er auch so ausgelassen gefeiert wie letzte Nacht? Es war Jahre her und er selbst Student gewesen.

      «Magst du die Omelette nicht?» Fede setzte sich ebenfalls.

      «Es ist in etwa das Einzige, was du im Kochen beherrschst.» Max hielt schützend die rechte Hand vors Gesicht. Prophylaktisch, dachte er. Sie lachte nur und schob sich eine gefüllte Gabel in den Mund. Später sagte sie, Milagros sei sehr enttäuscht, weil sie nicht im Hotel Victoria-Jungfrau übernachten würden.

      Ich auch, dachte Max. Wenn er Fedes Vorhaben früher gekannt hätte, er hätte nicht gezögert und Milagros’ Angebot angenommen. Er war in Luxus aufgewachsen und tat sich schwer damit, sich mit einfachen Verhältnissen zu begnügen. Aber das sagte er nicht laut. Fede lebte auf einem Bauernhof, was alles andere als luxuriös war. Max’ Bemerkung wäre arrogant gewesen.

      «Noblesse oblige.» Milagros gab sich heute noch Mühe, ihm diesen Leitsatz einzubläuen. Dass Fede auf dem Land wohnte, wusste sie nicht. Sie ging davon aus, dass sie als IT-Spezialistin einen angemessenen Lohn empfing und sich einige Extravaganzen leisten konnte. Fede war anpassungsfähig, wenn sie Milagros besuchten. Sie tat dann sehr gesittet. Dass sie gestern nur in einem ausgeschnittenen Sommerkleid vor seine Mutter getreten war, und das in einem Fünf-Sterne-Hotel, musste Milagros als einmaligen Ausrutscher verstanden haben. Es war Sommer und heiss. Die jungen Leute durften sich mehr erlauben als die ältere Generation. Zumindest nach Milagros’ Ansicht. Kaum hatte sich Fede nach dem Dinner von ihr verabschiedet, nahm sie Max zur Seite und fragte ihn, ob Federica keine eleganten Kleider eingepackt habe. Und diese abscheulichen Tattoos. So etwas Schlimmes habe sie noch nie gesehen.

      «Woher hast du die Buttergipfel?» Max schnappte sich einen.

      «Vorne beim Eingang gibt es einen Shop. Dort bekommt man alles, was es für einen angenehmen Campingaufenthalt braucht, auch Waschmittel … falls du mal was waschen willst.» Fede grinste über den Kaffeetassenrand hinweg.

      «Hast du vor, dich hier für länger einzunisten?» Max verging der Appetit.

      «So lange wie nötig.» Fede stellte die Kaffeetasse ab. «Ich habe die Brüder Xìngshì Lian und Dan gegoogelt.»

      «Was hast du?» Max erhob sich. Er musste sich beeilen, wollten sie um acht Uhr im Hotel sein. «Wann schläfst du eigentlich?»

      «Um fünf war ich hellwach. Ich liebe den Sommermorgen, dieses frühe Glimmen. Um fünf ist die Welt noch in Ordnung.»

      «Und?» Max hatte kein Bedürfnis nach romantischem Geplänkel.

      «War nicht so schwierig, sie zu finden. Sie sind altersmässig bloss ein Jahr auseinander. Hättest du nicht gedacht, oder? Lian ist der Ältere.»

      «Und der Fettere», ergänzte Max.

      Fede sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. «Ich fand sie im Archiv der Technischen Universität München. Aufgrund eines Studentenaustausches mit Peking kamen die Brüder nach Europa. Nachdem beide den Bachelor in ihrer Heimatstadt Peking gemacht hatten, bewarben sie sich für den Master im Maschinenbau respektive in der Informatik in Deutschland. 2004 schlossen sie ab und kehrten in ihr Land zurück.»

      Für Max drängte die Zeit. «Warten wir ab, was sie uns über sich berichten werden.»

      Fede räumte das Geschirr ab. «In Peking gelten sie als Pioniere beim Bau moderner Schienenbahnen.»


Скачать книгу