Interlaken. Silvia Götschi

Interlaken - Silvia Götschi


Скачать книгу
Entlebucher Bauernhaus.» Sie wies auf eine Tafel. «Das ‹Wissämmeli›. Es stand übrigens in Escholzmatt und stammt von 1744 –»

      «Welches man anhand der Dendrochronologie herausgefunden hat», unterbrach Max sie.

      «Ich sehe, wir verstehen uns.» Fede schmunzelte.

      Sie gingen weiter zwischen einem historischen Karussell und einem Schweinegehege durch und standen alsbald vor einer Spielhalle mit Arkadenbögen. Ein Völkerauflauf hatte sich beim Sachseln-Haus gebildet. Der Eingangsbereich war mit Flatterbändern abgesperrt. Neugierige drängten sich vor. Ein Durchkommen war schwierig. Max und Fede bahnten sich unzimperlich einen Weg zwischen den Menschen hindurch. Sie gelangten zu einem Mann in Polizeiuniform. «Gibt es ein Problem?», fragte Fede.

      Der Mann drehte sich zu ihnen um. Schwarzer Schnurrbart, eng stehende Augen. Ihm stand die Verwunderung ins Gesicht geschrieben. «Das hier ist ein Polizeieinsatz. Aber keine Bange, das Haus wird gleich freigegeben. Es dauert nicht mehr lange.»

      «Eine Tote liegt oben», sagte jemand an Max’ Seite.

      Max schluckte leer. Er sah in ein ernstes Männergesicht. «Eine Tote!» Er zögerte. «Das ist ein Witz, oder?»

      «Nein, kein Witz. Ich habe sie selber gesehen. Sie liegt auf dem Bett, sieht ziemlich blass aus.»

      Der Frau an seiner Seite gelang es nicht, ein Kichern zu vermeiden. «Die liegt aber im Haus nebenan, in dem aus Erstfeld.»

      Ihr Mann gab ihr recht, wandte sich wieder an Max. «Sie sind wohl zum ersten Mal hier, nicht wahr?»

      Max hatte sich von seinem Schrecken noch nicht erholt. Ein flaues Gefühl machte sich in der Magengegend breit. «Weiss man, wer sie ist?» Er malte sich bereits aus, seinen Mandanten die traurige Botschaft überbringen zu müssen, eine ihrer Frauen sei tot aufgefunden worden.

      War das hier ein Tatort? War jemand umgebracht worden?

      «Sie war die Tochter der Familie Epp, welche Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in diesem Haus gelebt hat. Sie sollten sich davon überzeugen. Die Totenwache war früher von zentraler Bedeutung. Für die damaligen Menschen war es normal, zu Hause geboren zu werden und zu Hause zu sterben. Wenn Sie oben ins Hinterzimmer gehen, können Sie die Tote sehen. Wie ich mich erinnere, ist es ein etwa siebenjähriges Mädchen im Erstkommunionkleid.» Der Mann schmunzelte. «Zu Ihrer Beruhigung … es ist eine Gipspuppe.»

      «Ja, aber im Haus von Erstfeld», korrigierte die Frau.

      Max wurde jäh von Fede abgelenkt. «Im Haus muss jemand übernachtet haben, sagte man mir.» Fede war kurz ausser Atem. «Zwei antike Betten wurden durcheinandergebracht, die Tür zum Plumpsklo war aufgebrochen, das Klo offenbar benutzt worden.»

      «Und dazu bietet man die Polizei auf?» Max fühlte sich gerade etwas neben den Schuhen, überlegte sich jedoch, dass man bereits Spuren gesichert, vielleicht sogar DNA-Proben genommen hatte, falls es sich bei dem Vandalismus um mehr als einen Lausbubenstreich handelte.

      «Denk doch mal nach. Zwei Chinesinnen verschwinden hier vor Ort, tauchen im Hotel Victoria-Jungfrau nicht auf. Ist es möglich, dass sie hier übernachtet haben?»

      «Sie waren am Samstag hier. Das ist nicht logisch. Und für so naiv halte ich sie nicht.» Max zog Fede von den Schaulustigen weg auf die Rückseite des Hauses, wo sich ein dominanter Kamin vom Boden bis über das Dach der Fassade entlang erhob. «Glaubst du, man hat erst heute entdeckt, dass ‹eingebrochen› wurde?»

      «Fragen wir, dann erfahren wir es. Wir sollten uns bei den Museumswärtern und Parkwächterinnen erkundigen. Ich habe gesehen, die schwirren hier nur so rum. Zudem gibt es in jedem Kantonsteil eine Vorführung, sei es in der Schau-Käserei, in der Bäckerei, in der Töpferei … überall sind Menschen, die das Museum beaufsichtigen oder die Aufgabe haben, die Besucher zu unterhalten.»

      «Da fallen zwei Chinesinnen auf jeden Fall auf.» Max konnte seinen Sarkasmus nicht zurückhalten. «Die sehen doch alle gleich aus, die Asiaten.»

      «Wir haben ein Foto, schon vergessen?»

      «Ja, ein vierjähriges Bild.»

      «Wenn wir es nicht versuchen, werden wir nie auf einen grünen Zweig kommen.» Fede wandte sich von Max ab, ging zurück zum Eingang, wo jemand die Flatterbänder entfernte. «Ich werde mich umhören. Ich schicke dir eine SMS.» Sie verschwand zwischen einer Gruppe von Leuten.

      Max bat eine Frau zur Seite, die rein optisch zu den Komparsen auf dem Museumsgelände gehörte. Er glaubte, sie vorhin auf der Kutsche gesehen zu haben. «Kann ich Sie kurz sprechen?» Sie trug eine Nidwaldner Werktagstracht, die Max kannte. Milagros war nebst einer Sonntagstracht auch in deren Besitz, zog sie am Nationalfeiertag und an der Chilbi an.

      Die Frau stellte sich bereitwillig für ein Gespräch zur Verfügung. «Ich bin Renate.»

      Max reichte ihr die Hand und nannte seinen Namen. «Können Sie mir erklären, was heute genau vorgefallen ist? An der Kasse sagte man mir, es sei eingebrochen worden. Jemand anderer meinte, Fremde hätten hier übernachtet.»

      «Das kommt in etwa einem Einbruch gleich, wenn man historisch wertvolle Sachen wie zwei Betten und das Plumpsklo benutzt.» Renate ereiferte sich. «Ballenberg ist ein Freilichtmuseum. Die Häuser dienen Ausstellungszwecken und sind keine Hotels, die man beliebig betreten kann. Offensichtlich war das den Übeltätern egal.»

      «Wann fiel es denn auf?»

      «Gestern Abend, nachdem man einen Kontrollgang durch das Haus gemacht hatte.»

      «Das heisst, es ist nicht sicher, wann eingebrochen wurde?»

      «Soweit man mich darüber informiert hat, nicht.»

      «Waren Sie am letzten Samstag auch auf dem Gelände?»

      «Ja, da war ich vorne in der Schmiede von Bümpliz im Berner Teil.»

      Max zeigte ihr das Foto von Shenmi und Yuyun. «Haben Sie diese beiden Frauen gesehen?»

      Renate griff nach dem Bild, drehte und wendete es, als würde sie auf der Rückseite eine Antwort auf Max’ Frage finden. «Was haben Sie für eine Nationalität?»

      «Es sind Chinesinnen», und als wäre es wichtig, hängte er «aus Peking» an.

      «Hm …» Renate dachte angestrengt nach. «Es waren einige Chinesen bei uns. Aber wenn Sie sich umsehen, wimmelt es hier geradezu von ihnen.»

      «Ja, und sie sehen alle gleich aus.»

      «Das wollte ich soeben sagen.» Renate schenkte ihm ein Lächeln, während sie ihm das Foto zurückgab. «Schwer zu sagen. Ich kann mir Gesichter nicht gut merken, exotische sowieso nicht.»

      «Sie waren in einer Gruppe von ungefähr fünfzehn Leuten unterwegs.» Max blieb beharrlich.

      «Vielleicht fragen Sie mal beim Coiffeur im Richterswilerhaus im Ostschweizer Teil nach. Dort finden Sie meine Kollegin Gabi. Sie ist ein wandelndes Lexikon, hat zudem Augen wie ein Luchs. Nehmen Sie den Weg linker Hand.» Renate wies in nördlicher Richtung. «Vorbei am Wohnhaus von Erstfeld.» Das mit der Leiche, dachte Max. «Gehen Sie über den Waldweg weiter bis zum Werkhofschopf, der liegt gegenüber der Trotte. Dann alles geradeaus. Sie überqueren rechts den Bach und kommen zum Bauernhaus aus Uesslingen. Das Haus mit dem Coiffeur steht vis-à-vis.»

      Max hatte Fede aus den Augen verloren. Als er beim Richterswilerhaus ankam, befand sie sich bereits im Coiffeurmuseum und bestaunte die historischen Frisuren. «Du bist da? Was für ein Zufall.» Max zeigte auf eine Haarpracht von 1946 mit der am Oberkopf aufgesteckten Haartolle. «Die wäre doch etwas für dich.»

      Fede drehte sich ganz zu ihm um. «Gott sei Dank lebe ich im einundzwanzigsten Jahrhundert.» Sie lachte verschmitzt. «So weit von den heutigen Frisuren ist sie allerdings nicht … Ich habe dir eine SMS geschrieben. Hast du sie gelesen?»

      Max vergewisserte sich. «Tatsächlich. Nein, habe ich nicht. Jemand hat mich hierhingeschickt. Wir sollten uns an eine Gabi wenden.»

      «Die


Скачать книгу