Interlaken. Silvia Götschi

Interlaken - Silvia Götschi


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fragen wir die Herren noch einmal. Es kann nicht sein, dass sie uns im Dunkeln tappen lassen.»

      Sie erreichten den Bahnhof Interlaken Ost. Vor der Station warteten Touristen aus aller Herren Länder auf den Anschlusszug nach Lauterbrunnen, der sie zur Kleinen Scheidegg und von dort auf das Jungfraujoch fuhr. Rucksacktouristen, vollgepackt mit Stöcken und Proviant, nebst Leuten in leichter Bekleidung und Sandalen drängten sich auf das Perron.

      «Allerspätestens dann, wenn die Feriengäste auf dem Jungfraujoch aus der Bahn steigen», äusserte sich Fede, «werden sie am eigenen Körper spüren, dass ihr Outfit den hochalpinen Verhältnissen nicht angepasst ist. Mag die Temperatur hier unten sommerlich warm sein, auf der Sphinx friert man sich den Allerwertesten ab.»

      «Warst du im Sommer schon mal oben?» Max fuhr weiter.

      «Wir machten mit der IT-Firma, in der ich angestellt war, vor fünf Jahren einen zweitägigen Ausflug nach Wengen. Da stand das Jungfraujoch zwangsläufig auf dem Programm. Es ist faszinierend dort oben, vor allem der Eispalast mit den Eisskulpturen, mal abgesehen von der phänomenalen Aussicht. Bei klarer Sicht sieht man bis zu den Vogesen oder auf den Aletschgletscher inmitten von den Viertausendern. Man sollte öfter in die Berge fahren, um zu spüren, wie klein und unbedeutend man ist. Ich weiss nicht, warum wir uns immer so wichtig nehmen.»

      Der Höheweg war von Touristen überflutet wie immer, die Wiese gegenüber dem «Victoria-Jungfrau» ganz in der Hand der Paraglider. Der Blick in den Himmel lehrte Max das Fürchten. Wie farbige Fledermäuse schwebten sie in der Luft.

      Er parkte vor dem Hotel, übergab dem Butler die Autoschlüssel, half Fede aus dem Wagen und betrat die Lobby hinter dem Eingang. Eine Klimaanlage hatte das Innere auf angenehme achtzehn Grad heruntergekühlt. Fede fröstelte, was sie seufzend kundtat, hängte sich bei Max ein, während sie durch die Bar linker Hand ins Restaurant spazierten, dorthin, wo Milagros auf sie wartete.

      Sie hatte sich wie immer herausgeputzt, war sogar beim Coiffeur gewesen, was der Duft nach Haarlack verriet, als Max sich zu ihr hinunterbeugte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Ihr Make-up dagegen klebte unangenehm.

      «Wer hat dir vom Verschwinden von Shenmi und Yuyun erzählt?» Max setzte sich an den weiss gedeckten Tisch, nachdem Fede Platz genommen hatte.

      «Ein guter Bekannter», erwiderte Milagros. «Ich kenne ihn aus der Zeit, als er im Palace Luzern als Küchenchef gearbeitet hat. Er geht auf die siebzig zu, hat, wie er mir erzählte, sein Vermögen in Immobilien investiert. Er ist geschieden. Meines Wissens ist er Stammgast hier im Hotel. Wir kamen ins Gespräch, da redeten wir auch über dich und dass du deinen Beruf als Anwalt aufgegeben hast und eine Detektei betreibst. Das eine hat das andere ergeben. Wie’s so ist im Leben, nichts geschieht grundlos. Vor drei Tagen kam er zu mir und fragte mich, ob die Brüder Xìngshì deine Dienste in Anspruch nehmen dürften.»

      «Warum hat er den Herren nicht geraten, die Polizei zuzuziehen?»

      «Ist das ein Thema?» Milagros griff nach der Speisekarte, schlug sie auf und tat so, als studierte sie die Vorspeisen. «Es ist nicht deine Aufgabe, dies zu hinterfragen. Mach deinen Job.» Sie lächelte in Fedes Richtung, die still dasass. Was musste sie über das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter denken? «Habt ihr eine erste Spur?»

      Fede fühlte sich angesprochen. «Wir haben Bildmaterial bekommen, das wir genauer untersuchen müssen. Immerhin ist das ein Anfang. Wir vermuten, Shenmi und Yuyun haben die Nacht vom Samstag auf den Sonntag auf dem Gelände des Freilichtmuseums Ballenberg verbracht.»

      Milagros legte die Speisekarte ab. «Wie habt ihr das herausgefunden?»

      Fede klärte sie über die Details auf.

      «Sollte es stimmen, was du mir erzählst, haben wir es mit eher dreisten Frauen zu tun.» Milagros setzte ihre Speisensuche fort. «Im Sachseln-Haus. Ich erinnere mich. Liegt dort nicht diese Tote?»

      «Eben nicht.» Max grinste vor sich hin.

      «Zudem eine mutige Überlegung.» Milagros lächelte in die Runde. «Habt ihr schon etwas ausgewählt?» Sie zögerte. «In den zwei Nächten auf heute müssen sie auch irgendwo geschlafen haben.»

      «Das ist richtig», sagte Max und überflog die Speisekarte. Der Appetit hatte sich bei ihm noch nicht eingestellt. «Fede wird am Nachmittag das Tourismusbüro aufsuchen. Vielleicht kann sie über die Gästeanmeldung herausfinden, wo sie logiert haben. Die Reisepässe der ausländischen Gäste werden kopiert und auf dem Rechner hinterlegt. Jeder Gast bezahlt zudem Kurtaxen.»

      «Die Schweiz ist ein Überwachungsstaat.» Fede konnte sich nicht zurückhalten.

      «Das war früher schon so», erwiderte Milagros, die sich offenbar angesprochen fühlte. «Trotzdem gibt es immer wieder Zechpreller. Diese in ihr Herkunftsland zurückzuverfolgen, ist kein leichtes Unterfangen … Wo sind wir stehen geblieben? Ach ja, beim Menü. Ich habe mich entschieden. Ich nehme das Berner Oberländer Kalbstatar mit Belper Knolle und Kartoffeln.»

      «Was ist eine Belper Knolle?», fragte Fede belustigt.

      «Käse, meine Liebe. Sie ist der Star unter den Schweizer Käsesorten, rund, fein gewürzt, in der Konsistenz ähnlich wie Parmesan, im Aroma etwas erdiger.»

      «Okay, dann nehme ich das auch.» Ihre Augen wurden grösser. «Die haben auch Kaviar-Canapés?»

      Milagros schaute auf. «Du magst Kaviar?»

      «Ich liebe ihn.»

      Max wartete gespannt auf Milagros’ Reaktion. Fede hatte bei ihr wohl ins Schwarze getroffen. Mit Kaviar und Co. konnte man bei ihr Pluspunkte sammeln.

      «Ein Canapé als Amuse-Bouche. Ich spendiere dir eines. Es ist gerade gross genug, dass es perfekt in den Mund passt.»

      «Bei dem Preis?» Fede verzichtete. «Und was bestellst du?» Sie schielte zu Max hinüber.

      «Ich habe keinen Hunger. Seid mir nicht böse. Ich würde gern mit den Veranstaltern respektive den Reiseleitern der Xìngshìs sprechen.»

      «Kann das nicht warten?» Fede war enttäuscht.

      «Lass ihn», fand dagegen Milagros. «Ich bin froh, nimmt er die Sache endlich ernst.»

      Max liess den Vorwurf stehen, den er als solchen empfand. Milagros hatte sich verändert. Ob es an ihrem Lebenspartner lag? Nie hatte sich der Gedanke an Ralph Estermann so aufgedrängt wie in diesem Moment. Über ein halbes Jahr war Milagros mit ihm auf Reisen gewesen. Dies hatte sie wohl geprägt. Sie hatte sich immerzu bei Max gemeldet. Von Ralph hatte er nie etwas direkt gehört, ausser das, was er von Milagros wusste. Aber dass der Cellist des 21st Century Orchestra auf Kosten von Max’ Mutter lebte, hatte sie ihm nicht verheimlichen können. Letzthin hatte Max zufällig eine Kreditkartenabrechnung gesehen, worauf ersichtlich war, dass Milagros die gesamte Weltreise bezahlt hatte.

      Er blieb vor dem Tisch stehen. Wut stieg in ihm hoch. In den letzten vier Jahren hatte er immer Rücksicht auf seine Mutter genommen, sich kaum einmal gegen ihre oft nervige Art aufgelehnt. Wenn er sie ansah, mit ihrem immer lächelnden Mund, dem dick aufgetragenen Make-up und den knallroten Lippen, hätte er ihr am liebsten gesagt, was er von ihr hielt. Er fand es daneben, wenn sie sich dauernd in seine Angelegenheiten mischte. Offenbar kam sie nicht damit zurecht, dass sie älter wurde und ihre Glanzzeiten endgültig vorbei waren. Sie war längst nicht mehr die Diva an Kaspar von Wirths Seite, die zeigte, was sie hatte. Heute tanzte nahezu niemand mehr wirklich nach ihrer Geige, wie die Leute es früher getan hatten. Frau von Wirth hier, Frau von Wirth da. Sie hatte nur mit ihren Fingern zu schnippen gebraucht, und alle kamen angekrochen. Ihre Auftritte heute hatten eine peinliche Note.

      «Was ist?» Milagros musste ihn eine geraume Zeit angestarrt haben. «Ist etwas nicht in Ordnung? Du machst ein verdrossenes Gesicht.»

      «Ich muss zu wenig geschlafen haben», erwiderte er.

      Mit dieser Plattitüde gab sie sich zufrieden, denn sie wandte sich wieder an Fede.

      Was sie miteinander sprachen, hörte Max nicht mehr. Er hatte sich auf den


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