Interlaken. Silvia Götschi
ihn zu. Nicht sicher, an wen er sich nun wenden sollte, sprach er den jungen Mann an, der ihm am nächsten stand. Auf dem Namensschild am Revers seines steifen Anzugs konnte Max den Vornamen Robert lesen. «Bei Ihnen logiert eine Gruppe von Leuten aus Peking. Ich müsste mal deren Reiseleiter sprechen.»
«Es sind zwei», sagte Robert, der zweifelsfrei schnell kapierte. «Ich erinnere mich spontan nur an ihre Nachnamen Li und Chen.»
«Li Zuko und Chen Akuma heissen sie. Könnten Sie sie an den Empfang bestellen?»
Robert tippte auf die Tastatur vor ihm und warf einen ernsten Blick auf den Bildschirm. «Sie sind nicht im Haus. Sie machen einen Ausflug auf das Jungfraujoch.»
«Mit der ganzen Gruppe?» Vor lauter Enttäuschung fiel Max nichts Gescheiteres ein. Was hatte er bloss gedacht? Die Männer würden in ihrem Zimmer warten und Däumchen drehen? Sie hatten einen Job, ihrer Touristengruppe Erlebnisse zu bieten, sie zu begleiten und die Informationen zu übersetzen, die nirgends in ihrer Sprache geschrieben standen.
Max trommelte nervös mit den Fingern auf den Tresen. «Wenn sie zurück sind, teilen Sie ihnen bitte mit, sie sollen sich mit mir in Verbindung setzen.» Er liess seine Visitenkarte liegen.
Er brauchte frische Luft. Von den üppig arrangierten Jasminblüten, die im gesamten Raum aus Trögen wuchsen, ging ein intensiver Geruch aus. Max flüchtete nach draussen, was in Anbetracht der Hitze keine gute Idee war. Sie umgab ihn wie ein Pelzmantel. Er hätte das Hemd wechseln sollen. Seine Reservekleider befanden sich im Zelt. Vermaledeit! Er musste sich etwas einfallen lassen. Es konnte nicht sein, dass er sich dermassen und wahrscheinlich grundlos aufregte.
Auf der Wiese gegenüber landeten im Minutentakt die Paraglider in Doppelbesetzung. Leute mit ihren Smartphones standen herum und kriegten nicht genug vom Blick auf das Display. Zu Hause würden sie es bedauern, vor Ort nicht mehr durch ihre Augen wahrgenommen zu haben.
Die Jungfrau im Hintergrund nahm den Spickel zwischen den bewaldeten Bergrücken ein wie ein glitzerndes Juwel. Das Fragment eines Triptychons, das nur aus dieser Perspektive so zu sehen war. Die Sonne schien auf ihre Firne und liess sie unter dem blauen Himmel leuchten. Es wirkte so harmonisch, als wäre die Welt abgemessen.
Doch so jungfräulich der Berg auch strahlen mochte, Max sah in ihm etwas Düsteres, wenn nicht etwas Abgründiges. Woher das seltsame Gefühl kam, darauf konnte er sich keinen Reim machen. Es war ihm, als verbärge die unvollendete Ansicht des Dreigestirns ein Geheimnis.
War es ein Fehler gewesen, diesen Auftrag anzunehmen? Noch hatte er so gut wie nichts in Erfahrung gebracht. Die Brüder Xìngshì liessen ihn im Ungewissen. War etwas dran an dem Klischee, dass die Chinesen hinter einer lächelnden Maske ihr wahres Gesicht verbargen?
«Mister Max.» Die Stimme kam von hinten.
Max drehte sich um. Er hatte sich das Mondgesicht mit dem Muttermal links am Kinn eingeprägt. «Mister Xìngshì.» Er hielt sich mit einer überschwänglichen Begrüssung zurück, streckte seine rechte Hand zum Gruss aus. «Ich bin froh, treffe ich Sie hier.»
«Haben Sie schon gegessen?»
«Ja, danke», log Max.
«Wie wäre es mit einem Drink? Ich habe gehört, an der Bar gäbe es wunderbare Erfrischungsgetränke und heisse Tees.»
«Später vielleicht.» Max mochte diese Begrüssungsrituale nicht. Xìngshì holte immer weit aus, bis er auf den Punkt kam. Das, worum es bei ihm ging, teilte er lieber wie beiläufig mit. «Ich habe eine erste Spur. Möglicherweise haben Ihre Frau und die Frau Ihres Bruders im Freilichtmuseum Ballenberg übernachtet.»
«Ich kenne kein Hotel im Museum.» Xìngshì blieb ruhig.
«Sie könnten auf dem Gelände gewesen sein», sagte Max vorsichtig und versuchte in den nächsten Minuten, seine Beobachtungen plausibel zu erklären. «Sind Sie sicher», fragte er abschliessend, «dass Ihre Frau und Ihre Schwägerin hier in der Nähe keine Bekannten haben?»
«Absolut sicher. Sie kennen sich hier nicht aus.»
Max gab sich nicht zufrieden. «Ich muss eine Entführung ausschliessen können.»
Erstes Zögern von Xìngshìs Seite. Er sah auf den Boden und schwieg.
«Kommt Ihnen spontan jemand in den Sinn, dem Sie und Ihr Bruder ein Dorn im Auge sein könnten?»
«Ein Dorn im Auge?» Xìngshì verzog seinen Mund. «Ich bitte Sie.» Ob er mit dieser Floskel etwas anfangen konnte?
«Erzählen Sie mir, weshalb Sie in Interlaken sind.»
«Wir machen Urlaub.»
«Warum sind Sie dann nicht auf dem Jungfraujoch?» Im Moment der Frage begriff Max, dass er damit zu weit gegangen war. «Entschuldigen Sie bitte, das … das war nicht passend.»
Xìngshì Dan setzte ein Lächeln auf, das Max nicht zu deuten vermochte. «Ich verstehe Ihre Bedenken. Mein Bruder und ich sind in der Schweiz keine Unbekannten. Wir tätigen Geschäfte in Ihrem Land, das von solcher Schönheit ist. Wir wollten unseren Frauen diese Einzigartigkeit zeigen, deshalb haben wir diese Reise gebucht.» Er wandte sein Gesicht ab. «Es ist eine Tragödie, was passiert ist.»
«Dann sollten Sie zur Polizei gehen.»
Xìngshì packte Max plötzlich an den Armen, eine Geste, die er nicht erwartet hatte. «Ich kann nicht, Mister Max. Es ist alles viel komplizierter, als Sie denken.»
***
Am Nachmittag trödelte Max durch Interlaken. Fede befand sich im Tourismusbüro und versuchte, über den Aufenthalt von Shenmi und Yuyun etwas herauszufinden. Max spazierte an den Uhrengeschäften und Kleiderboutiquen vorbei und schaute in die voll besetzten Gartenrestaurants, die überquellenden Souvenirshops. Interlaken hatten nicht nur die Asiaten fest im Griff, auch Inder und arabische Gäste hatten den Ort für sich entdeckt. In schwarze Abayas gekleidete Frauen trotzten der Hitze. Max taten sie leid. Wie hielten sie es unter diesen Gewändern aus, während ihre Männer mit Shirt und kurzen Hosen ihren Reichtum demonstrierten, mit der vergoldeten Rolex am Handgelenk oder dem Gucci-Täschchen am Arm der Frau?
Max ertappte sich dabei, wie er jeder asiatischen Frau nachsah. Wenn sie ihm entgegenkamen, schaute er länger als üblich in ihre Gesichter in der Meinung, unter ihnen die Vermissten zu erkennen. Vielleicht hatten Shenmi und Yuyun Interlaken längst verlassen. Auch damit musste er rechnen. Er bekundete mit der Vorstellung Mühe, dass sich die Frauen nicht zu wehren wussten. Ausser, und er musste auch mit dieser Option rechnen, man hatte sie entführt. Eine Geldforderung war bis anhin jedoch nicht eingegangen. Die Xìngshì-Brüder hatten nichts durchblicken lassen. Andererseits hätten sie dann kaum im Sachseln-Haus übernachtet. Irrte er sich?
Nach einer Stunde erfolglosen Umherschlenderns kehrte Max ins «Victoria-Jungfrau» zurück. Der anonyme Anrufer hatte sich ein zweites Mal gemeldet und Max darauf hingewiesen, der Tod seines Vaters sei von langer Hand geplant gewesen. Was wollte der Unbekannte damit bezwecken? Max hatte lange gebraucht, um über den Tod seines Vaters hinwegzukommen. Wer konnte ein Interesse daran haben, alte Wunden aufzureissen? Aber vielleicht durfte er es nicht für bare Münze nehmen. Seit sein Name im Zusammenhang mit der Detektei im wöchentlichen Anzeigenblatt erschien, war er angreifbar geworden. Er erfuhr fast täglich, welch kranke Gestalten sich auf dem Erdball tummelten.
Wie nicht anders zu erwarten, sass Milagros im Garten. Sie unterhielt sich mit einem älteren Herrn und war dermassen in das Gespräch vertieft, dass sie Max nicht beachtete. Er schlich vom Garten her über die Treppe, die ins Hotelinnere führte, rechts die Fassade entlang und setzte sich an einen kleinen Tisch unter einer Markise. Milagros drehte ihm den Rücken zu. Der Herr hatte sich zwischenzeitlich zu ihr gesetzt. Max schnappte Wortfetzen auf, war sich nicht gleich schlüssig, worum es ging. Erst mit der Zeit vermochte er, aus den Wortfragmenten ein Gesamtbild zu erstellen. Milagros wollte vermutlich in ein Bauprojekt investieren. Max traute es ihr durchwegs zu. Es schien, dass der Mann an ihrem Tisch die Fäden zog. Worauf liess Milagros sich gerade ein? Max hatte das Bedürfnis, sie von etwas abzuhalten, das ihr später leidtun und sie bereuen würde. Er kannte sie.