Interlaken. Silvia Götschi
gibt’s denn so was?» Max konnte es nicht nachvollziehen.
«Die kleinen Pensionen verfügen nicht überall über die modernsten Anlagen», sagte die Frau.
Max holte zu einer erneuten Bemerkung aus. Fede hielt ihn zurück. «Wir gehen zum Aparthotel Goldey.»
Die Frau erhob sich, wischte sich den Schweiss ab. «Dieser Sommer ist eine einzige Zumutung, obwohl er erst begonnen hat.»
Fede suchte auf ihrem iPhone nach der Adresse. «Das Hotel ist nicht weit von hier entfernt. Wir können gut zu Fuss dorthin. Also die Markgasse entlang bis zur ersten Aarebrücke, dann über die Spielmatte und über die zweite Brücke. Beim Restaurant Steinbock geht man rechts eine kurze Distanz über die Haberdarre und zweigt auf die Untere Goldey ab. Der Weg zum Hotel führt die Aare entlang.»
«Und wie viele Meter?» Der Asphalt brannte. Max hatte keine Lust, über kochende Böden zu gehen.
«Knapp achthundert Meter.»
«Fast ein Kilometer.»
«Max, was soll das?» Fede hielt ihn am Arm fest. «Irgendetwas bedrückt dich, seit wir hier sind. Klär mich bitte auf. Es macht mir keinen Spass, mit einem Miesepeter unterwegs zu sein.»
«Ist es so schlimm?» Max hatte nicht daran gedacht, mit seiner schlechten Laune Fede brüskieren zu können. Sie kannten sich seit knapp zwei Jahren. An manchen Tagen fühlte es sich sehr viel länger an. Wenn jemand Geheimnisse vor dem andern hatte, war das Fede. Max dagegen war wie ein offenes Buch. Oder doch nicht? «Entschuldige, ich hatte einen Disput mit Milagros.» Er setzte sich langsam in Bewegung.
«Du zögerst?» Fede kniff die Augen zusammen.
Max glaubte, ihr anzusehen, dass sie ihm dieses Argument nicht abnahm.
«Was war der Auslöser?»
Sollte er es ihr sagen? Dass er durch einen anonymen Anrufer belästigt wurde? Wenn es um seinen Vater ging, reagierte er einstweilen noch immer pikiert. Nach seinem Tod hatte Max es nicht zugelassen, dass man darüber sprach. Der Flugzeugabsturz war für ihn tabu gewesen. Es hatte zu viele schöne Erinnerungen gegeben, um diese mit einem Schlag zunichtezumachen. Vater hatte ihn, als Max sieben gewesen war, zum ersten Mal in einem Segelflieger mitgenommen. Er hatte ihm die Welt von oben gezeigt. Später hatte er ihn selbst an den Steuerknüppel gelassen und ihm kontinuierlich die Technik des Segelfliegens beigebracht. Nie hatte Max sich freier gefühlt als in dieser Unendlichkeit. Die Wolken unter ihm wie Zuckerwatte am Jahrmarkt, die Hügel und Baumspitzen in einer grandiosen grünen Sinfonie, ganze Flussläufe wie kapillare Verästelungen. Das leise Surren, wenn der Wind über die Flügel streifte, das Auf und Ab in der Thermik.
Aber vor allem diese Stille in sich selbst. An manchen Tagen hatte sie ihn fast melancholisch gestimmt. Dann hatte er den Drang verspürt, etwas Verrücktes zu tun.
«Max?»
«Sorry, was hast du gefragt?»
«Was der Auslöser war.»
«Jemand hat mich angerufen, und … er hat bereits zweimal angerufen …» Max holte Luft, versuchte, den Kloss in seiner Kehle hinunterzuschlucken. «Er behauptete, der Flugzeugabsturz, bei dem mein Vater ums Leben kam, sei kein Unfall gewesen.»
«Weisst du, was du da sagst?» Fede war sichtbar empört.
«Ich hatte mich nie dafür interessiert. Als uns die Todesnachricht erreichte, drehte Milagros durch, und ich verkroch mich in meinem Schneckenhaus. Es war in derselben Zeit, als ich meinen Job verlor. Ich kann dir nicht einmal sagen, wann es mir wieder besser ging.»
«Hast du die Anrufe gelöscht?»
«Wie meinst du das?»
«Vielleicht kann man sie zurückverfolgen.»
«Die Nummer war unterdrückt.» Max rang sich ein Lächeln ab. Manchmal stellte Fede ihre Pragmatik über alles.
«Mit Hilfe des Telefonanbieters ist dies möglich.»
«Klar wäre das möglich, aber nur mit einer richterlichen Verfügung. Ich kann aber nichts beweisen. Es war keine Drohung gegen mich, obwohl ich es als solche empfand.»
«Wenn er es ernst meint, wird er sich wieder melden. Dann nehmen wir die Stimme mit meinem iPhone auf.» Fedes Naivität war zum Lachen schräg.
Sie erreichten die erste Brücke. Die Aare passierte dort eine Schleuse. Das Wasser, weisse Gischt, trotzte im Flussbett dem Wehr. Max legte einen Halt ein, sah hinunter auf die Elemente, die gegeneinanderspielten: Luft, Erde, Wasser.
«Kommst du?»
Fedes Ungeduld hinderte Max daran, stehen zu bleiben. Er folgte ihr unter einer gedeckten Passage. Später kamen sie zur zweiten Brücke, bevor sie in die Untere Goldey abzweigten. Fede hatte nicht zu viel versprochen. Der Weg zum Aparthotel lag mehrheitlich im Schatten wuchtiger Kastanienbäume.
Er war dennoch klatschnass, als sie das Hotel erreichten. Sie betraten das Haus, das seine puristische Bauweise durch eine aussergewöhnliche Lage wettmachte. Das Innere wirkte hell und einladend. Die Rezeption lag ebenerdig beim Durchgang zum Restaurant. Ein junger Typ, dessen rotbrauner Vollbart wie angeleimt aussah, füllte Prospekte in einen Steller.
Max stellte sich und Fede mit Namen vor. «Wir sind auf der Suche nach zwei Chinesinnen, die hier vom Montag auf den Dienstag logiert haben. Die Buchung ging über Trivago ein, das Zimmer war auf den Namen Wang Yuyun reserviert.»
«Haben sie etwas angestellt?» Der Bärtige legte den Rest der Prospekte auf den Tresen. Ohne eine Antwort abzuwarten, sagte er, er möge sich an die Frauen erinnern. «Ich habe mich gewundert, weil sie mit relativ wenig Gepäck eincheckten. Sie hatten nur eine kleine Reisetasche dabei.»
«Sah diese neu aus?», fragte Fede.
«Eine Sporttasche der Marke Nike, keine Ahnung, ob die neu war. Aber sicher ein hiesiges Modell. Kann man in jedem Sportgeschäft kaufen.»
«Haben sie gesagt, wohin ihre Reise als Nächstes geht?»
«Wir haben uns kaum unterhalten. Ihr Englisch liess zu wünschen übrig. Und Chinesisch spreche ich nicht. Aber sie interessierten sich für Prospekte über das Jungfraujoch. Ich glaube, sie sind auf den Berg gefahren.»
«Wissen Sie, wann?»
«Entweder gestern oder heute. Nehme ich mal an.»
«Wo könnten sie von gestern auf heute übernachtet haben?»
Der Bärtige strich sich über das rotbraune Gestrüpp. Bei dieser Hitze musste es ihn fast umbringen. «Falls sie gestern auf das Jungfraujoch gefahren sind, haben sie vielleicht in Wengen oder auf der Kleinen Scheidegg übernachtet. Das tun die meisten, wenn es Platz hat, um sich wegen des Höhenunterschieds zu akklimatisieren.»
«Ist es möglich, dass Sie dies für uns abklären?» Fede hatte sich einen der Prospekte geschnappt, blätterte darin, während sie den Bärtigen mit einem koketten Augenaufschlag bezirzte. Sie schaffte es immer wieder, die für sie unangenehmen Dinge zu delegieren. Man müsse sich auf das Wesentliche konzentrieren, war ihre Ansicht.
«Wer möchte das wissen?» Der Bärtige schien zu bemerken, wie er seit geraumer Zeit bereitwillig Auskunft gegeben hatte, ohne das Gegenüber näher zu kennen.
«Wir sind Detektive und auf der Suche nach den Frauen», sagte Max und warf einen Blick durch die Fensterfront. Die Aare bewegte sich träge talwärts.
«Ach so. Sie sahen nicht danach aus, dass sie auf der Flucht sind.» Über sein Gesicht zog Röte im Wettstreit mit dem Bart. «Andererseits kam es mir seltsam vor. Werden sie verdächtigt, etwas angestellt zu haben? Also, das Hotelarrangement haben sie auf jeden Fall mit der Kreditkarte bezahlt.»
«Auf wessen Namen?»
Der Bärtige verschwand hinter dem Tresen und sah auf den Bildschirm des Rechners. Er tippte etwas ein. «Yuyun … Wang Yuyun.»
Max überlegte.