Interlaken. Silvia Götschi
«Wo kommst du her?» Milagros hatte sich als Erste wieder gefangen. Dass Max in ihre Unterredung platzte, war ihr offenbar unangenehm. Sie wandte sich an den Mann an ihrer Seite. «Das ist Maximilian, mein Sohn.» Und an Max: «Das ist Levi Bromberg …», sie zögerte, «… von dem ich dir, glaube ich, erzählt habe.»
Max reichte ihm widerwillig die Hand. Der Mann war ihm auf Anhieb unsympathisch. Seine ganze Haltung vermittelte etwas Undurchschaubares. Max glaubte, es auch in seinen Augen zu sehen. «Und, wollen Sie meiner Mutter eine Wohnung in Interlaken verkaufen?», provozierte er.
«Maximilian!» Milagros bekam ihren roten Mund nicht mehr zu.
«Sorry, du sagtest letzthin, Herr Bromberg handle mit Immobilien.» Max lächelte in seine Richtung. Schlohweisse Haare umrahmten ein Gesicht, das in der Vergangenheit von zu viel Sonne bestrahlt geworden war. Wie dunkelbraunes Leder spannte sich die Haut. Die schiefergrauen Augen waren ein aussergewöhnlicher Kontrast.
«Das ist richtig.» Bromberg hatte sich schnell wieder gefasst, falls er Max’ Bemerkung als Affront empfand. «Ich verkaufe und vermiete Wohnungen und Häuser.»
Milagros war nicht wohl in der Haut. Sie lenkte vom Thema ab. «Bist du mit deinen Recherchen schon weitergekommen?»
«Nicht wesentlich.» Max wandte sich wieder an Bromberg. «Ich habe vernommen, Sie seien der Erste gewesen, der vom Verschwinden der Frauen erfahren hatte.»
«Ich kenne die Brüder Xìngshì seit einiger Zeit.» Bromberg legte sein linkes über das rechte Bein und verschränkte die Arme. «Sie sind zwei- bis dreimal im Jahr in Interlaken.»
«Arbeiten Sie mit ihnen zusammen?»
Über Brombergs Gesicht zog ein Schatten, sein Blick verdüsterte sich. «Was wollen Sie mit dieser Frage bezwecken?» Er hielt seinen Zorn augenscheinlich im Zaum. «Als ich erfuhr, dass Sie Privatdetektiv sind, riet ich den Xìngshìs, sich an Sie zu wenden. Wie ich feststelle, war das ein Fehler.» Bromberg stellte die Beine gerade hin, löste die Arme, erhob sich und verneigte sich vor Milagros. «Sie entschuldigen mich.»
Als Bromberg ausser Sichtweite war, prasselte es von Milagros Vorwürfe. «Was ist bloss in dich gefahren! Wie wagst du es, meinen Gast zu verscheuchen!»
«Seine Reaktion zeugt von Arroganz. – Ich habe keine Ahnung, warum er aufgestanden ist. Ich habe bloss ein paar Fragen gestellt.»
«Wir hatten ein gutes Gespräch. Er ist Gentleman durch und durch. Und du benimmst dich wie ein Elefant im Porzellanladen. Schäm dich!»
«Sorry, wenn ich dich von einem lukrativen Geschäft abgehalten habe.» Max schrieb sein unzimperliches Vorgehen diesem anonymen Anruf zu. Sein Inneres war dermassen aufgewühlt gewesen, dass er sich Luft machen musste. Es war zu spät. Er hatte gerade alles vermasselt. Er versuchte nicht einmal, das Desaster durch eine kleine Nettigkeit ungeschehen zu machen. Dabei hätte er gerade jetzt die Chance gehabt, etwas über Bromberg zu erfahren.
«Ach, da kommt Federica.» Milagros atmete sichtbar aus.
Fede! Das Kleid klebte an ihrem Körper.
«Nichts», sagte sie. «Absolut nichts. Die Frauen haben nicht in Interlaken übernachtet, in keinem der Hotels. Ich habe ihr Bild herumgezeigt. Niemand will sie gesehen haben.» Sie wollte sich setzen.
Max hielt sie davon ab. «Wir sollten zurück zu unserer Unterkunft.» Er sagte nichts von einem Zelt, um Milagros’ Einwände zu umgehen. Sie hätte sich den Mund darüber zerrissen und wirklich einen Grund gehabt, ihm zu grollen.
«Wollt ihr schon aufbrechen?», fragte Milagros enttäuscht. Den Disput mit Max schien sie auszublenden.
«Wir werden uns melden», sagte Fede, «sobald wir wieder salonfähig sind.»
«Morgen Abend gehe ich ins Freilichttheater in Matten. Soll ich für euch auch Tickets besorgen?»
Die Frage erwischte Max eiskalt. «Du willst dir Wilhelm Tell ansehen? Den kennst du sicher in- und auswendig.» Und an Fede gewandt sagte er: «Sie besucht die Aufführung in jedem Sommer … mindestens zweimal.»
«Ich wünschte, du würdest dich mehr für Kultur interessieren.»
Dass sie ihn nicht als Kulturbanausen bezeichnete, rechnete Max ihr hoch an. Er zog Fede sanft vom Tisch weg.
«Habt ihr das Kriegsbeil ausgegraben?», fragte sie, kaum sassen sie in Max’ Auto.
«Warum meinst du?» Max startete den Motor. Der Mustang schnurrte wie eine Raubkatze. Max mochte dieses Geräusch. Dazu die epische Musik von Thomas Bergersen. Es lenkte ihn von allem Unerfreulichen ab.
«Ich musste nur in eure Gesichter sehen. Was ist euch über die Leber gekrochen?»
«Es lohnt sich nicht, darüber zu sprechen.» Max fuhr vom Parkplatz auf die Strasse. «Ich möchte aber, dass du herausfindest, wer Levi Bromberg ist.»
«Wir haben einen anderen Auftrag.»
«Genau um den geht es. Überleg doch mal. Bromberg und die Xìngshìs müssen enger miteinander zu tun haben. Nicht umsonst haben sich die Chinesen an ihn gewandt.» Max erzählte vom kurzen Gespräch mit Bromberg, ohne sein unmögliches Verhalten ihm gegenüber zu erwähnen. «Ich muss zuerst erfahren, in welchem Umfeld sich die Frauen befanden, bevor sie verschwunden sind. Ob wir eine Entführung ausschliessen können oder was der Grund sein könnte, warum sie ausgerissen sind.» Max fuhr nach einer Slalomfahrt von Umwegen über die Bahnhofstrasse Richtung Unterseen. Autobusse verhinderten ein rasches Vorwärtskommen. Die Sonne strahlte vom Himmel wie ein Feuerwerfer in einer apokalyptischen Szenerie. Aus der Stereoanlage erklang die Melodie von «Empire of Angels». Es reichte, um Max in eine Art Trance zu versetzen.
Das iPhone surrte über die Freisprechanlage. Die Musik verschwand. Max fühlte sich gestört und liess es klingeln.
«Willst du das Gespräch nicht annehmen? Es könnte wichtig sein.»
Max kannte die Nummer nicht. Ob es der Unbekannte war, der ihn vorhin belästigt hatte? Er hatte kein Bedürfnis, Fede an seinem Schmerz teilhaben zu lassen, denn dieser würde unweigerlich zurückkehren. Nach einem kurzen Zögern meldete er sich.
«Max von Wirth?» Eine hohe laute Stimme. «Mein Name ist Chen Akuma. Ich bin der Reiseleiter von den Leuten aus Peking. Sie haben mich gesucht.»
Max beruhigte sich. «Danke für den Rückruf, Mister Chen. Es geht um … Xìngshì Shenmi und Yuyun. Ich gehe davon aus, Sie wissen, was passiert ist.»
Keine Antwort.
«Ich habe den Auftrag bekommen, nach ihnen zu suchen.»
«Die Brüder Xìngshì möchten nicht, dass das breitgeschlagen wird.»
«Deshalb haben sie mich engagiert. Ich bin Privatdetektiv.»
«Ich kann Ihnen leider nichts dazu sagen.»
Max hatte den Anruf auf laut gestellt. Er warf Fede einen Blick zu. «Habe ich etwas gefragt?»
Sie hielt den Finger vor den Mund. «Sag nichts Unüberlegtes», flüsterte sie.
«Ich muss ein paar Dinge über die Frauen in Erfahrung bringen. Dazu könnten Sie mir sicher behilflich sein», schmeichelte Max, ahnte aber, Chen könnte das Telefonat abbrechen.
«Ich glaube nicht, dass ich Ihnen helfen kann. Ich habe die Reisegruppe in Zürich übernommen. Was vorher war, entzieht sich meiner Kenntnis. Wenn ich von jedem meiner Gäste Fichen anlegen würde, wo käme ich hin?»
Max liess sich nicht abwimmeln. «In welchem Reisebüro haben sie gebucht?»
«Die meisten unter ihnen in einem Reisebüro in Peking, mit Ausnahme der Familie Xìngshì. Mir liegen die Unterlagen von einem Büro in Interlaken vor.»
«Kann es sein, dass nicht die Xìngshìs, sondern jemand in der Schweiz für sie gebucht hat?»
Ein Zögern. «Das ist anzunehmen.»
«Nennen