Interlaken. Silvia Götschi

Interlaken - Silvia Götschi


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bleibt unter uns.» Max fuhr über die Seestrasse, über eine lange Gerade. Ein paar Bauernhöfe mit Landumschwung links und rechts. Feldarbeiter, die geschnittenes Gras zum Trocknen verzettelten. «Fiel Ihnen, als Sie mit den Xìngshìs im Ballenberg waren, etwas Ungewöhnliches auf? Gab es Streit zwischen den Ehepaaren, den Eheleuten?»

      «Nein, das ist mir nicht bekannt. Ich erinnere mich nur, dass Yuyun und Shenmi immer miteinander unterwegs waren. Sie trennten sich keine Minute voneinander.»

      «Wir haben Bilder, auf welchen Ihre Gruppe im Ostschweizer Teil zu sehen ist», sagte Max.

      «Das war etwa die letzte Station, als die Frauen bei uns waren. Es gab da einen jungen Mann, der unablässig Fotos schoss. Einer der Filmcrew, die sich ebenfalls dort befand, hat ihn mehrmals zurechtgewiesen … und nein, die Eheleute stritten sich nicht.»

      «Welchen Eindruck hatten Sie von den Frauen? Waren sie scheu?»

      «Nein, ganz normal, wie Frauen so sind. Sie kicherten immerzu … allerdings …»

      «Ja?»

      «Eine von ihnen schien mir manchmal sehr traurig zu sein.»

      «Welche von beiden?»

      «Das kann ich nicht sagen.»

      «Hatten Sie das Gefühl, Shenmi und Yuyun kannten sich in der Gegend aus?»

      «Sie sind zum ersten Mal in der Schweiz. Aber sie haben sich gewiss auf diese Reise gut vorbereitet. Die Asiaten studieren die Orte, die sie bereisen. Sie mögen keine Überraschungen. Und vor allem wollen sie Sicherheit.» Chen räusperte sich. «Ich muss unser Gespräch beenden. Ich werde verlangt. Wenn Sie mehr erfahren möchten, so halten Sie sich an das Reisebüro … ‹Bödeli-Reisen›, wie ich gesagt habe.»

      Fede hatte auf ihrem iPhone die Adresse bereits herausgesucht. «Wollen wir dorthin gehen, bevor wir zum Campingplatz fahren?»

      «Das hat Zeit bis morgen.» Max hatte nur einen Wunsch. «Ich freue mich auf einen Sprung in den kühlen See.»

      «Du nimmst es verdammt locker», insistierte Fede.

      «Weil ich glaube, dass die Frauen von sich aus verschwunden sind.»

      VIER

      Plüscheisbären und Eisschollen aus Styropor schmückten das Schaufenster. «Bödeli-Reisen» warb für eine Expedition nach Alaska, passend in diesem Sommer, in dem man nach Abkühlung lechzte. Max und Fede betraten das Reisebüro an der Bahnhofstrasse, kaum hatte dieses am Morgen seine Tür geöffnet. Das Interieur wirkte einladend: zwei Pulte in entgegengesetzter Richtung, davor je zwei Stühle, dahinter ein Regal an der Wand, voll beladen mit Reisejournalen, Katalogen über ferne Destinationen, bunt und ansprechend. Die exotischen Orte warben mit Sandstränden und Sonnenuntergängen, die Städte mit lächelnden Frauengesichtern. Der Weltfrieden war an diesen Wänden spür- und sichtbar. Es gab keine Kriege, weder Terroranschläge noch Hungersnöte. Selbst die vom Eidgenössischen Departement des Äussern als heikel eingestuften Reiseorte blufften mit sehenswerten Kulturstätten. Max scannte die Eindrücke in Sekundenschnelle ein.

      Die Frau hinter einem der Pulte trug einen ärmellosen weissen Overall, hatte eine knabenhafte Frisur und begrüsste ihre Gäste mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, welcher ihre Abneigung gegen alle richtete, die sie zu so früher Morgenstunde störten. Max sah ihr an, dass sie nicht mit Besuch gerechnet hatte. Ihr konnte das Reisebüro unmöglich selbst gehören. Sie sass hier wohl die Zeit ab, verdiente schlecht, während ihr Chef rund um den Globus reiste, um die Eindrücke zu sammeln, die seine Angestellte als Single-, Familien- und Gruppenreisen anbot.

      «Ich heisse Daria», sagte sie. Ein schnelles Lächeln, erzwungen wahrscheinlich. «Wie kann ich Ihnen helfen?»

      Max zeigte seinen Ausweis, der ihn zum Detektiv legitimierte. Daria warf kurz einen Blick darauf. «Polizei?», fragte sie. Offenbar hatte sie die Karte nicht genau angesehen.

      Max liess sie in dem Glauben. «Im Verlauf des letzten halben Jahres hat Herr Levi Bromberg aus Interlaken eine Reise von Peking in die Schweiz gebucht, präziser, nach Zürich …» Max versuchte es mit einer Spekulation, derweil er keine Ahnung hatte.

      «Ich weiss, wer Bromberg ist.» Daria verzog ihren Mund. Ein Lachen blieb aus. «Mein Chef.»

      Max wandte sich an Fede. «Warum weiss ich das nicht?»

      «Das höre ich auch zum ersten Mal.»

      «Das vereinfacht die Sache.» Max räusperte sich. «Ihr Chef hat die Reise also gebucht.»

      «Sie war ein Geschenk an seine chinesischen Freunde Dan und Lian Xìngshì, in Begleitung mit ihren Frauen. Ich habe die Unterlagen dazu erst noch in den Händen gehalten.»

      «Aus welchem Grund?»

      «Bitte?»

      «Warum hatten Sie die Unterlagen hervorgeholt?»

      «Ich habe sie nicht hervorgeholt. Ich entdeckte sie gestern Morgen auf dem Pult, nachdem ich am Abend zuvor picobello aufgeräumt hatte. Ich wunderte mich ein wenig –»

      «Können Sie sich einen Reim darauf machen, weshalb die Reisedokumente auf Ihrem Pult lagen?», unterbrach Max sie.

      «Ich gehe davon aus, es hat mit dem Verschwinden der beiden Frauen zu tun.»

      «Hat sich Ihr Chef dahingehend geäussert?»

      «Ich habe ihn nicht gesehen. Er muss während meiner Abwesenheit hier gewesen sein. Das kommt öfters vor. Herr Bromberg lässt meinem Kollegen und mir viel Freiheit. Er kontrolliert erst, wenn wir Feierabend machen. Das ist verständlich, hat er doch weit wichtigere Geschäfte als dieses kleine Reisebüro.» Daria sah zuerst Max, dann Fede an. «Sie sind nicht von der Polizei, oder?»

      «Nein, wir sind Detektive.» Max näherte sich erneut dem Pult, auf dessen Rückseite Daria noch immer stand. «Es wäre für uns hilfreich, wenn Sie uns alles, was Sie über die Xìngshìs wissen, erzählen könnten. Wir suchen nach ihren verschollenen Frauen. Sicher steht etwas über sie in Ihren Unterlagen. Ihre ledigen Namen, ihr Heimatort, sofern ein solcher notiert ist, das Geburtsdatum.»

      Daria fuhr den Computer hoch. «Ist alles auf dem Rechner.» Sie zögerte plötzlich. «Ich weiss nicht … Ich bin nicht befugt, Ihnen Auskunft zu geben.»

      Fede zog die Augenbrauen hoch. «Sie würden nicht nur uns einen grossen Dienst erweisen.»

      Daria räusperte sich. «Ehm … okay, die Unterlagen habe ich verräumt. Einen Augenblick bitte.» Sie tippte mit dem Cursor auf ein Dokument. «Hier, vielleicht werfen Sie selbst einen Blick darauf.» Sie drehte den Bildschirm in Max’ Richtung. «Sie sind mit Cathay Pacific Airways geflogen. Ihre Rückreise ist für den 1. Juli gebucht.»

      «Xìngshì Lian und Yuyun», las Fede, die sich zwischen den Bildschirm und Max geschoben hatte. «Jahrgang 1979 respektive 1990 und Xìngshì Dan und Shenmi, Jahrgang 1980 und 1990. Es existieren keine ledigen Namen.»

      «Das ist höchst sonderbar», sagte Max. «Chinesische Frauen behalten nach der Heirat ihren ledigen Namen.» Er wandte sich an Daria. «Sind in Ihrer Datenbank die Kopien der Pässe?»

      «Nein.» Daria scrollte nach unten. «Mir ist aber, als hätte ich die ledigen Namen von den zwei Frauen gelesen. Möglicherweise sind sie der Einfachheit halber nicht unter ihren Mädchennamen aufgeführt. Hier, sehen Sie? Wang Yuyun und Tong Shenmi … im Kleingedruckten.»

      «Steht auch, woher sie kommen?» Fede gab sich nicht zufrieden.

      «Aus Peking, steht ja da.» Daria hob ihre Schultern.

      «Ich meinte, bevor sie heirateten.»

      «Das dagegen steht nirgends.» Daria bedauerte es, ihnen nicht eine ausführlichere Auskunft darüber geben zu können. «Ich kann Ihnen höchstens mitteilen, wo überall sie logiert haben und beabsichtigen, es in den nächsten Tagen zu tun … also, wenn sie nicht verschwunden wären. Auch die Ausflüge sind drauf. Gestern zum


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