Interlaken. Silvia Götschi

Interlaken - Silvia Götschi


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der Beruf als Anwalt stark geprägt hatte. Obwohl ein Zusammenziehen ein viel diskutiertes Thema war, wohnte Max noch immer in seinem Eigentumsappartement in Hergiswil. Fede hatte im Drachenried zwischen Stans und Kerns einen Bauernhof, den sie nicht aus der Hand geben wollte. Freiheit bedeutete ihr alles. Ihre Beziehung, wie sie sie lebten, war Spannung und erotisches Knistern.

      Der sattgrüne Wald, der die Passstrasse säumte, lichtete sich mit jedem Meter, den sie dem Flusslauf der Aare näher kamen, mehr. Max lenkte den Wagen im Talgrund über die Überlandstrasse, dem Felsriegel Ballenberg entlang, vorbei an einsamen Höfen und allein stehenden Ställen. Rapsfelder bewegten sich im Wind. Die ersten Häuser vom Bauernschnitzerdorf Brienz tauchten auf.

      Max fuhr durch das Dorf am Brienzer Rothorn. In dieser Jahreszeit glitzerte der Brienzersee in türkisfarbenen Farbnuancen. Brienz vermittelte etwas von einem längst vergangenen Jahrhundert, in dem die Hektik des Alltags noch nicht angekommen war. Chalets, so weit das Auge reichte, und von der Sonne verbranntes Holz prägten das Ortsbild sowie die ausladenden Giebeldächer, die so typisch waren für das Berner Oberland. Mit Geranien und Petunien üppig bepflanzte Blumentröge und Vorlauben zierten die dunkelbraunen Fassaden.

      Max war zum ersten Mal vor achtzehn Jahren in Interlaken gewesen, als der Mystery-Park des Autors Erich von Däniken seine Tore geöffnet hatte. Der sternenförmig angelegte Park, der sich unerklärlichen Welträtseln widmete, hatte mittlerweile eine etwas andere Bestimmung gefunden und dadurch den Namen gewechselt. Die dominante Kugel in dessen Zentrum war geblieben. Ebenso die Nachbildung der Pyramide von Gizeh oder diejenige der Maya. Heute lockte der Park mit interaktiven Erlebnissen.

      Max liess die Parkanlage hinter sich und fuhr bis zum Bahnhof Ost. Er folgte dem Höheweg, der ihn direkt vor das Hotel Victoria-Jungfrau führte.

      Fede hatte die Sonnenblende herunter- und den Spiegel aufgeklappt. Skeptisch begutachtete sie ihr Gesicht. «Glaubst du, ich bin fünfsternetauglich?»

      «Wie man’s nimmt.» Max fuhr grinsend vor den Haupteingang, wo ein befrackter, in die Jahre gekommener Butler darauf wartete, die Autotüren zu öffnen und den neuen Gästen aus dem Wagen zu helfen.

      «Du musst mächtig Eindruck machen», frotzelte Fede und schickte sich an, dem tief gelegenen Autositz zu entkommen.

      «Welcome in Interlaken.» Der Butler lächelte, als er Max’ Autoschlüssel übernahm. «Haben Sie reserviert?»

      «Wir sind mit Milagros von Wirth verabredet, logieren aber nicht im Hotel.»

      «Darf ich Ihren Wagen trotzdem in die Garage stellen? Madame von Wirth erwartet Sie auf der Sonnenterrasse.»

      «Deine Mutter scheint auch hier sehr bekannt zu sein», äusserte sich Fede, als sie später über die Treppe die Terrasse betraten.

      Der Pianist in dunklem Anzug und Fliege spielte auf einem Flügel unter einem hellen Sonnenschirm den Walzer «Petersburger Schlittenfahrt». Die Melodie vermochte nicht, die herrschende heisse Temperatur hinunterzukühlen.

      Milagros sass wie eine Matrone auf einer mit üppigen Kissen dekorierten Bank. Sie inszenierte sich wie so oft, wenn sie in einem Luxushotel residierte. Die reiche Lady der Upperclass, die sich einen Aufenthalt im Grandhotel leisten konnte. Flankiert wurde sie von zwei Männern mit asiatischem Einschlag. Auf dem Glastisch vor ihr standen ein Eiskübel mit einer Flasche Champagner, drei Burgunderkelche und eine Etagere mit salzigen Naschereien. Max blieb stehen. Bis anhin hatte seine Mutter ihn nicht bemerkt. Ihre Aufmerksamkeit galt ganz ihren Gästen.

      «Warum zögerst du?», flüsterte Fede. «Willst du nicht Guten Tag sagen?»

      Für einen Rückzieher war es zu spät. Milagros hatte die beiden entdeckt. Sie riss sich von der Bank hoch. «Federica, Maximilian, schön, seid ihr endlich da. Ich dachte schon, ich müsste heute Abend allein dinieren.» Sie vollführte eine ausschweifende Armbewegung in Richtung ihrer Gäste. «Darf ich bekannt machen? Das sind die Brüder Xìngshì Lian und Dan aus Peking.» Sie sprach englisch mit ihnen.

      Chinesen! Was auf aller Welt hatte Milagros mit Chinesen zu tun?

      Die beiden Männer erhoben sich. Sie waren mindestens einen Kopf kleiner als Max, trugen Bermudas und beide ein T-Shirt mit dem Aufdruck «I like Interlaken».

      Erstes Anzeichen von Sympathie. Fede wog keinen Moment ab. Sie umarmte zuerst Milagros und verneigte sich in der Folge vor den beiden Chinesen, was Max übertrieben fand. Die Männer jedoch streckten ihre Hand zum Gruss aus. «Nǐn hǎo», sagten beide synchron. Max griff nach der ersten Hand. Es fühlte sich wie ein Streicheln an. «Was meinten sie?» Er bemerkte, wie die Männer ihre Augen senkten. Eine Verneigung blieb aus.

      «Nǐn hǎo, merk dir das. Es heisst ‹Guten Tag› auf Chinesisch, in der Höflichkeitsform.» Milagros setzte sich wieder. «Nehmt Platz.» Ein gelbes Chiffonkleid umspielte ihren Körper. Dazu trug sie einen passenden Hut.

      Max fragte sich, ob sie bei dieser Hitze nicht umkam. «Sind das die neuen Auftraggeber?»

      «Sie sprechen Deutsch», flüsterte Milagros und warf Max einen anklagenden Blick zu. «Mira lo que dices. Sie haben in München studiert.»

      «Entiendo», flüsterte er. «Dann weiss ich nicht, weshalb du dich mit Englisch bemühst. Und warum stellst du ihren Vornamen hintenan?»

      «Die Chinesen setzen den Familiennamen dem Vornamen voran. Habe ich heute gelernt.»

      Max wandte sich an Xìngshì Dan. Dessen schwarze mandelförmige Augen schienen ihn zu durchleuchten. Er hatte festes, widerspenstiges Haar und eine glatte Haut, ohne das geringste Anzeichen eines Bartwuchses. «Entschuldigen Sie meine Ungeduld.»

      Xìngshì Dan legte seine Hände übereinander und diese auf seine Brust. Er lächelte dabei nur mit dem Mund. «Okay, okay, Ungeduld zeugt von Willenskraft.» Seine Stimme dagegen war laut und für einen Mann ungewöhnlich hoch.

      Max hielt es vorerst für besser, den Mund zu halten.

      «Xìngshìs machen eine Reise durch die halbe Schweiz», sagte Milagros. «Seit rund einer Woche sind sie zusammen mit einer Gruppe China-Touristen unterwegs. Sie starteten in Zürich, fuhren nach Luzern, Engelberg, auf den Titlis und logierten unter anderem auf dem Bürgenstock. Vorgestern reisten sie von der Innerschweiz nach Interlaken mit einem Zwischenhalt im Freilichtmuseum Ballenberg.» Milagros holte theatralisch tief Luft. «Seither sind ihre Frauen spurlos verschwunden.»

      «Und nicht wiedel aufgetaucht», bestätigte Xìngshì Lian. Im Gegensatz zu Xìngshì Dan schien er mit der Aussprache des Rs Mühe zu haben. Seine Stimmlage jedoch stand der seines Bruders in nichts nach. Sein Körper dagegen hatte fast das doppelte Volumen.

      «Haben Sie die Polizei darüber informiert?», fragte Fede. «Eine Vermisstenanzeige aufgegeben?»

      Die Chinesen hoben zeitgleich ihre Hände und sprachen wie aus einem Mund: «Keine Polizei.»

      Keine Polizei? Max fragte nicht nach dem Grund. Abwarten war sein Fazit. Aufträge, die Milagros einfädelte, waren mit Vorsicht zu geniessen.

      «Haben Sie schon gegessen?», fragte Xìngshì Dan und übte sich in einem Lächeln. «Tāmen yǒu shíjiān ma?»

      «Was sagten Sie?»

      «Haben Sie Zeit? Wir würden Sie gern einladen.»

      Max bedankte sich. «Dürfte ich erfahren, was Sie von uns erwarten?»

      «Die Schweizer Küche ist hervorragend», schwärmte Xìngshì Dan. Es schien, als wollte er nicht gleich auf den Kern der Sache kommen. «Wir haben bereits das Fondue chinoise probiert.» Er lächelte geheimnisvoll. «Es ist etwas fade.»

      Max sah zuerst Fede an. Sie hob ihre Brauen und kniff den Mund zusammen. Dann linste er zu Milagros hinüber, die ihre manikürten Fingernägel betrachtete. Er wandte sich an die Chinesen. «Worum geht es?»

      «Wil wünschen, dass Sie unsele Flauen suchen.» Über Xìngshì Lians Gesicht kroch Röte. «Wil welden Sie gut bezahlen.» Er griff nach seinem iPhone und tippte in die Notizen-App eine Zahl ein, nachdem


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