Sommer war es. Iselin C. Hermann

Sommer war es - Iselin C. Hermann


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      Iselin C. Hermann

      Sommer war es

      Roman

      Aus dem Schwedischen von

      Regine Elsässer

Lindhardt und Ringhof

      Ein Sommertag in den sechziger Jahren, eine verschwundene Zeit. Die fünfjährige Zwetsche sitzt mit ihrer Großmutter im Auto, sie sind unterwegs zum großelterlichen Gutshof, wo Zwetsche bleiben soll, bis ihre Eltern von ihrer Urlaubsreise zurückkommen. Auf dem Hof warten der Großvater, ihre drei studierenden Onkel und die Haushälterin Nea. Der Hof ist ein großer Abenteuerspielplatz, ein Paradies mit Kühen, Pferden, kurzen Ausflügen in die Stadt. Aber werden die Eltern wiederkommen? Die Bornholmer Uhr in der Diele mißt die Zeit, sie ist merkwürdig elastisch, wenn man erst fünf Jahre alt ist. Ein Jahr währt ein ganzes Leben, und das Abenteuer wartet in einer sich bauschenden Sommergardine und den Glasaugen der ausgestopften Eule auf dem Schrank.

      Sommer war es ist die Erinnerungsphantasie einer Frau aus dem Land der Kindheit. Aus einer Zeit, in der die Erwachsenen riesige Nasenlöcher haben und merkwürdige Dinge sagen, die man nur halb versteht. Vielleicht haben wir es vergessen, aber genauso war es.

      Iselin C. Hermann, geboren 1959, lebt in Kopenhagen. In der Übersetzung von Regine Elsässer erschienen auf deutsch die Romane Liebe Delphine ... lieber Jean Luc ... (1999) und Dort, wo der Mond liegt (2003).

      »Mein Gott, was ist das nur für ein Hof?«

      Die Frage muß immer gestellt werden, wenn wir in die Allee einbiegen, und immer im gleichen fragenden Tonfall, als ob wir nicht ganz genau wüßten, was das für Gebäude sind, die vor unseren Augen erscheinen. Wir müssen beide so tun, als ob wir noch nie im Leben den Gutshof gesehen hätten, der einem Gesicht ähnelt. Ich habe Großmutter noch nie gesagt, daß ich finde, daß das Haupthaus einem Gesicht ähnelt, denn ich weiß, sie würde mich fragen, warum, und dann müßte ich zugeben, daß ich nicht wisse warum, es sei einfach so, bei den meisten Häusern sei das so. Ein ganz kleines Haus mit zwei Fenstern und einer Tür, wenn es das in der Wirklichkeit überhaupt gibt und nicht nur von den langweiligsten Kindern im Kindergarten gemalt wird: Fenster, Tür, Fenster, Schornstein mit Rauch, so ein blödes Haus ähnelt einem Hundekopf. Warum der Hof mich an ein Gesicht erinnert, ist schwer zu sagen, denn er hat zu viele Augen und nur einen Mund. Eins, zwei, drei, vier Fenster auf der einen Seite der Eingangstür und vier auf der anderen Seite, im ersten Stock sind drei Fenster, der Rest ist schwarzes Ziegeldach. Auf der einen Seite des Haupthauses ist die Scheune, auf der anderen der Kuhstall, davor auf dem Hofplatz ist ein rundes Rasenstück mit einer Hecke drum herum. Die Nebengebäude und der Hofplatz gehören zum Körper. Vielleicht finde ich, daß das Haupthaus einem Gesicht ähnelt, weil ich es so gut kenne wie mich selbst. Ich weiß, wie ich aussehe, wenn ich die Haare gewaschen bekommen habe und in ein Handtuch gewickelt auf einem Schemel stehe. Um mich zu sehen, wische ich den Dampf vom Spiegel, obwohl ich das nicht darf, weil es Streifen gibt, und ich muß mich auch nicht im Spiegel anschauen, um zu wissen, wie mein Kopf aussieht. Es ist einfach lustig, wenn Großmutter mit Erstaunen in der Stimme fragt: »Mein Gott, was ist das nur für ein Hof?«, sobald wir in die Allee einbiegen und dem Hof in die Augen schauen.

      Dieses Spiel gehört nur uns beiden, Großmutter und mir. Sie spielt es nicht mit den anderen Enkelkindern und auch nicht mit meinem kleinen Bruder. Wenn jemand von den anderen mit im Auto sitzt, dann sagt sie es nur zu mir. Die anderen können es hören, aber sie verstehen es nicht so, wie ich es verstehe. Auch weil ich die Älteste bin und den Hof am längsten kenne. Wie ich auch diejenige bin, die ihr Spiegelbild am längsten kennt.

      »Nicht Kopf ... es heißt Gesicht!«

      Das geht nie daneben, ich werde jedesmal korrigiert, wenn ich »Kopf« anstelle von »Gesicht« sage, aber nur Erwachsene und Häuser haben Gesichter, Kinder haben Köpfe. Das Gesicht ist die Vorderseite, mit dem tut man so, als ob. Ich habe ein weißes Gesicht, immer, wie der Hof. Wir haben beide dunkle Haare, aber weiter läßt sich nicht beschreiben, wie ein Gesicht aussieht, denn diejenigen, die man gern hat, kann man nicht beschreiben, und die beiden Gesichter, die ich am allerliebsten mag, sind in einem Nebel verschwunden.

      »Mein Gott, was ist das nur für ein Hof?«

      Es darf nur einmal gesagt werden, wenn wir in die Allee einbiegen. Es ist jedesmal lustig, nur gestern nicht.

      Ich saß schräg hinter Großmutter, da, wo ich immer sitze, hinter Großvater, wenn er mitfährt, und sagte kein Wort. Ich mag alles an dem Auto: den Geruch, besonders den Geruch, das Geräusch, den Namen, das Radio, die Farbe. Nur gestern nicht. Die ganze Fahrt war ein einziger langer Versuch, mich zu erinnern, wie sie aussehen, aber es war nicht möglich, den Dampf vom Spiegel zu wischen und Mama zu sehen, wie sie hinter mir steht, wenn ich gebadet habe. Und Papas Gesicht bekomme ich auch nicht hin. Ich kann es nicht. Und dann passierte es wieder, ganz tief im Bauch drehte es sich, wie ein fest ausgewrungener Waschlappen, der Hals schnürte sich um einen sauren Geschmack zusammen, und was aus dem Mund kam, nennt man Weinen. Irgendwie muß es schließlich heißen! Aber es ist viel mehr als Weinen, auch wenn Tränen aus den Augen kommen. Es ist Trauer, Verzweiflung, Unglück und etwas, wofür es in keiner Sprache Wörter gibt.

      »Aber meine liebe ...«, und dann sagt sie den Namen, den nur Großmutter benützt und der ganz anders ist als der, mit dem Großvater mich nennt. Und Papa! Und dann ertrinke ich in Tränen und Rotz.

      »Aber mein Liebes!«

      Sie versucht, erwachsen zu klingen und mit mir zu sprechen, als sei ich es auch. Aber ich bin ja nichts. Nur die, die allein zurückgelassen wurde. Weinen, Trauer, Verzweiflung, Unglück und das, wofür es keine Wörter gibt, kann man nicht mit Wörtern wegwischen. Der Rotz schmeckt süß. Tränen sind salzig, und wenn man nicht mehr weinen kann, bekommt man Schluckauf.

      Der Kies knirscht unter den Reifen, einen Moment lang tröstet mich das Geräusch, denn das, was man gut kennt, ist wie eine kühle Hand auf einer fieberheißen Stirn. Der Kies knirscht anders unter den breiten Reifen von Großmutters Auto als unter denen von unserem Volkswagen, damals, als alles noch wie früher war. Mein kleiner Bruder und ich lagen immer hinten in der Gepäckablage, wenn wir kein Gepäck dabeihatten. Die Gepäckablage hatte einen schwarz-weißkarierten Bezug, die Erwachsenen unterhielten sich, Papa fuhr, und Mama redete, wenn sie nicht ihm zuhörte. Das Geräusch unter den Reifen von Großmutters Auto ist ganz anders breit, wir nennen das Auto nicht ohne Grund »den Breiten«. In Wirklichkeit ist es ein Rover, aber von denen gibt es ja viele. Es gibt nur ein Auto auf der Welt, das der Breite heißt, und das ist dieses. Und nur eines, das den Kies so knirschen lassen kann.

      Auf dem Hof heißt eigentlich nichts so, wie es in Wirklichkeit heißt. Nur Großvater. Er kann nicht anders heißen. Irgendwie bin ich ein bißchen stolz auf all die Namen, ich weiß nicht, warum. Es ist fast so, als ob der Ort, der Mensch, das Ding, das mehrere Namen hat, dadurch größer, geräumiger, reicher wird. Heimlicher. Den Namen, den Großmutter für mich hat, kennen nur wir beide. Und auch den von Papa! Jetzt hatte ich doch aufgehört zu weinen, wegen des guten Geräuschs unter den Reifen, aber das Weinen pumpte durch den Hals und aus dem Mund, so daß mir der Kopf weh tat.

      Die Jungen standen auf der Treppe, wie meistens, wenn sie alle drei zu Hause sind. Hoftölpel, der Jüngste, steht fast immer auf der Treppe, und wenn er mal von zu Hause wegzieht, bekommt der Hof einen anderen Gesichtsausdruck. Die anderen beiden wohnen schon lange nicht mehr zu Hause, schon seit ich auf der Welt bin.

      Sie werden alle nicht bei ihren richtigen Namen genannt, und von allen dreien wird nur als von »den Jungen« gesprochen, was sie auch nicht sind, sie sind nämlich erwachsen. Fast. Nicht ganz so erwachsen wie andere in ihrem Alter, denn sie sind nicht ernst, und sie sind noch nicht verheiratet. Das heißt, der mittlere, Østen, heiratete, als er noch sehr jung war, und darüber waren die Großeltern sehr traurig. Dann wurde er geschieden, darüber waren sie sehr froh.

      »Sie waren viel zu jung«, sagt Nea und schüttelt den Kopf, während sie meiner Cousine die Windeln wechselt.

      Die Jungen haben noch keine Arbeit, sie studieren


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