Sommer war es. Iselin C. Hermann
Tiere sind nicht in ihrem Element, sie sind nicht freiwillig da, so etwas kann man riechen. Mir gefällt auch nicht, daß der Großvater den Futtermeister eingeladen hat, denn er möchte nicht hier sein. Aber Großvater hat Spaß an so etwas: fremde Leute aus dem Zug, junge Anhalter, die er und Großmutter aufsammeln, wenn sie mit dem Breiten fahren, werden zusammen mit Doktor Marcussen und Professor Dr. theol. und so weiter samt Frauen eingeladen. Nea soll einfach ein paar Extrateller decken! Der Scherenschleifer ... da hat Großmutter Halt gesagt! Er durfte gerne in der Scheune übernachten, wenn er nur die Streichhölzer vorher ablieferte, aber ihn zusammen mit dem englischen Botschafter einzuladen, das ging dann doch zu weit. Er ist schon ein bißchen merkwürdig, mein Großvater. Er hat ganz oft im Zoo gezeichnet, vielleicht deshalb.
Was reden die Erwachsenen nur miteinander, wenn sie so lange herumstehen? Am unbegreiflichsten ist jedoch, wie sie am Weihnachtsabend so viel reden und so viel essen können, vor der Bescherung! Unbegreiflich!
Endlich klatscht Großmutter in die Hände und ruft zu Tisch! Petersen stellt das Glas auf dem Kaminsims ab, er hat nichts getrunken, es nur außen angefaßt, und bedankt sich. Seine Schultern eignen sich besser für Großvaters Klapse als meine. Auf jeden Fall lächelt er, als er geht. Großmutter nimmt hinter seinem Rükken schnell das Glas vom Kamin.
Nea trägt einen neuen Kittel und serviert die Vorspeise. Es ist einer von den Tagen, an denen sie in Einsilbenwörtern spricht. Das mit dem Futtermeister geht ihr gegen den Strich. Letzten Sommer waren sie und das neue Futtermeisterpaar die allerbesten Freunde. Kaffee und Kuchen und frische Erdbeeren. Nea sammelte die Zeitungen der Herrin und hob sie für Frau Petersen auf, und sie beeilte sich mit dem Abwasch, weil sie zu Futtermeisters hinüberwollte. Aber dann, eines Tages, als ich Petersen erwähnte, da drehte sie mir nur den Rücken zu.
Ich habe Vetter Frisse als Tischherrn. Mit ihm kann man so gut reden wie mit einem Erwachsenen, obwohl er drei Wochen jünger ist als ich. Er erzählt mir Filme. Wir haben zu Hause keinen Fernseher, Frisse aber wohl, und er kann vier James-Bond-Filme auswendig. So ein 007 kann bis spät in die Nacht dauern, wenn das Licht im großen Gästezimmer schon gelöscht wurde und wir schlafen sollen. Der Schluß klingt dann immer ganz merkwürdig, weil seine Stimme so auf- und abschwingt, verschwindet, und am Ende klingt sie wie das alte Grammophon auf dem Dachboden, wenn wir es nicht genug aufgezogen haben. Ich bin nicht sicher, ob ich jemals einen Film bis zu Ende gehört habe.
Es ärgert ihn unglaublich, Frisse, daß ich das älteste der Enkelkinder bin und nicht er, auch wenn es sich nur um drei Wochen handelt. Es ist auch irgendwie ein Durcheinander, findet er, wo seine Mutter doch älter ist als meine und er der Junge ist.
Wenn Großvater mit uns anstoßen will, dann müssen wir aufstehen, das haben wir gelernt. Auch mein kleiner Bruder tut, wie man ihm gesagt hat, und stellt sich neben den Stuhl.
»So steh doch auf, Junge!« Großvater kann sehr brüsk und barsch klingen.
»Aber Großvater«, mein kleiner Bruder kann fast nicht sprechen, seine Stimme ist ganz klein, er muß mit den Tränen kämpfen, wenn er sagt: »Aber Großvater, ich stehe doch schon.«
Da lachen alle um den ganzen Tisch herum. Was für ein Spaß! Sie lachen über Großvater, er schaut ein wenig blöde und bekommt einen kleinen Mund. Meine Mutter bekommt Rotz an ihr feines Kleid, weil sie meinen kleinen Bruder trösten muß.
Wenn er sich erhebt und an sein Glas schlägt, gibt es allerdings keinen Zweifel. Großvater hält eine Rede auf die neuen Kuhbesitzer und erzählt, daß das Geld für die Milch unserer Kühe, die an die Molkerei verkauft wird, auf unsere Sparbücher kommt, bis wir erwachsen sind. Deshalb hat es auf der Zeichnung Geldscheine geschneit. Aber wie wird man erwachsen?
Frisses Lady Windermere hat nur drei Zitzen, aber das hat keinen Einfluß auf ihre Milchproduktion. Und doch kenne ich jemanden, der hält es für dummes Zeug, daß der Tierarzt mehrmals nach ihr geschaut hat, allein deswegen. Mein Vetter und ich, wir reden nie darüber, daß seine Kuh nur drei Zitzen hat, als ob meine drei Wochen Vorsprung nicht schon genug wären!
Jetzt ist es soweit! Wir schauen uns an und rutschen die Stuhlsitze herunter, sie sind wie dafür gemacht, sie sind aus glattem Roßhaar. Ein paar der Damen haben ihre hochhackigen Schuhe ausgezogen, Großvaters Schuhe sind unverkennbar, aber ansonsten sehen wir nicht, welche Schuhe wem gehören. Die Schnürsenkel der Männer binden wir zusammen ... ganz vorsichtig ... und zwei der Damenschuhe können wir vertauschen. Der eine ist ein Altedamenschuh, der vielleicht Ergo Sum gehört, der andere gehört vermutlich Mutter. Wir wissen genau, daß die Erwachsenen so tun, als würden sie nichts merken, als seien sie überrascht, wenn sie den einen Fuß nicht vor den anderen setzen können oder nicht in den Schuh hineinkommen, wenn sie vom Tisch aufstehen. Aber so muß es sein, und es ist jedesmal wieder lustig.
Aber jetzt passiert etwas, was wir noch nie gemacht haben. Die Jungen kommen zu uns Kindern und flüstern uns ein Geheimnis ins Ohr, es ist so geheim, daß ich mir fast in die Hose mache. Wir schleichen aus dem Zimmer und auf den Dachboden hinauf, wo all das steht, was man vielleicht noch einmal verwenden kann, obwohl alle wissen, daß der Dachboden der Vorhof der Müllkippe ist. Aber hier gibt es alles, was wir brauchen.
»Wir machen einen Angriff aus dem Hinterhalt! Ta-ta-ta-taa!« Hoftölpel hält eine unsichtbare Maschinenpistole vor sich, geht in die Knie und schielt noch mehr als so schon.
Das bedeutet Spaß. Er hat sich schon umgezogen, Tarnanzug und Helm mit Netz. Großmutter hat Frau Tokarsky angewiesen, in seinem Zimmer nicht sauberzumachen, solange es dort aussieht wie in einem Militärlager.
»Denen werden wir es zeigen«, triumphiert Hoftölpel, »wie schön es ist, wenn Schimmel auf den Bajonetten wächst!«
»Ja, wir machen einen Angriff aus dem Hinterhalt!«
Puer bekommt Großmutters Brautkleid im Rücken nicht zu, er setzt sich einen verbeulten Lampenschirm mit Troddeln auf den Kopf. Wir verkleiden uns alle und schleichen die Treppe hinunter. Østen, in einem verblichenen Fez und einem löchrigen Hausmantel, dreht die Hauptsicherung heraus. Und dann geht es los. Ins Wohnzimmer mit Wunderkerzen und Platzpatronen. Indianergeheul und Lügengeschichten. Vetter Frisse singt James-Bond-Musik: »Gooold-finger!« Es ist zu lustig, aber auch wichtig. Ich habe irgendwie das Gefühl, daß wir es machen müssen, weil es eine Aktion von den Jungen und uns gegen die Erwachsenen ist, aber auch für sie.
Ergo Sum bekommt de facto angst und stellt sich auf einen Stuhl, um über dem Kriegsgeschehen zu sein.
»Ach-tung, hier kommt die KUH-Horte!« ruft Puer irgendwo im Dunkeln.
Aber was kommt da für ein merkwürdiges Pfeifen von der Tür? Eine fremde Stimme, sie gehört keinem von uns, und so kleine Kinder haben wir nicht in der Familie. Nanki ist nie im Wohnzimmer, wenn etwas gefeiert wird, und Lille ist viel zu geschädigt, er käme nie hierher, es sind also nicht die Hunde, und doch sind wir in der Tierwelt. Jetzt wird es wieder hell, und da, unter dem Stuhl, liegt ein kleines rosa Schweinchen ... ohne Ringelschwänzchen. Die Lateinlehrerin schreit mit dem Tier um die Wette, Østen lacht so fröhlich, wie nur er lachen kann, und reibt sich dabei die Hände. Er hat es aus dem Stall draußen geholt.
»Na ja, es soll doch auch wissen, daß hier ein Fest gefeiert wird!«
Dann bekommt er den Großmutter blick ab. Ergo Sum fällt vom Stuhl, das Schwein wird hinausgebracht, und die KUH-Horte zieht sich heulend zurück.
»Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet!« Puer sitzt an einem wackeligen Klapptisch in seinem Zimmer, immer noch in Großmutters Brautkleid. Den Lampenschirm hat er im Eifer des Gefechts verloren, er faßt sich an einen nicht vorhandenen Spitzbart und versucht, wie ein bejahrter Anwalt auszusehen. »Ich glaube, wir können zur Konklusion kommen, daß dieser Angriff aus dem Hinterhalt von solchem Kaliber war, daß er für eine Präzedenz taugt! Um nicht zu sagen Konsensus!« Er schmatzt gekünstelt und vergnügt.
»Verstanden!« rufen Østen, und Hoftölpel und wir anderen plappern es nach wie ein Echo, ohne natürlich zu verstehen, was er sagt.
»So wie die Sache aussieht und sich anhört, schlage ich vor, daß wir, Bezug nehmend auf die allergeheimsten Paragraphen,