Sommer war es. Iselin C. Hermann
gerade angefangen.
Wenn die Jungen nicht zu Hause sind und Nea gut gelaunt ist, kommt sie zur Begrüßung auf die Treppe. Wenn die Jungen nicht zu Hause sind und Nea nicht herauskommt, ist das ein schlechtes Zeichen, denn dann ist dicke Luft oder Rauch in der Küche. So nennt Großmutter es und bekommt müde Augen. Aber das stimmt gar nicht, ich bin ganz oft selbst dort gewesen und habe nachgeschaut. Es qualmt nicht und riecht auch nicht; keine Spur von Rauch oder dicker Luft.
Bevor man die Küche betritt, muß man seinen Namen sagen. Wenn man nur so hineinstürmt, packt Lille einen an den Kniekehlen.
Eigentlich heißt er Kuan Jiin, und er ist der dünnere der beiden Pekinesen. Nanki ist der dickere und gutmütigere Hund und heißt eigentlich Nanki Puh. Beide sind ein Geschenk von irgendeinem Gesandten aus dem Land, wo man solche Hunde hat, wo die Menschen den Hunden ähneln und wo man sie auch ißt. Lille und Nanki halten sich meistens in der Küche bei Nea auf, obwohl meine Großeltern sie geschenkt bekommen haben, aber pfui Teufel, Hunde zu essen. Und Pferde. Und Räucherhering.
Lille hat einen Schaden. Daran sind die Jungen schuld, damals war Lille wirklich noch klein, und die Jungen waren noch Jungen. Sie lagen hinter der Tür auf der Lauer und schrien »Buh!«, als Lille kam, und davon hat er einen Schaden. Deswegen muß man immer seinen Namen sagen, wenn man die Küchentür aufmacht. Der Griff ist sehr hoch, die Tür hängt und gibt das schleifende Geräusch von sich, das einfach zur Küchentür dazugehört. Aber hier gibt es keinen Rauch und auch keine dicke Luft, da kann Großmutter sagen, was sie will! Nea steht mit dem Rücken zur Tür und richtet etwas, und obwohl ich laut gesagt habe, daß ich es bin, dreht sie sich nicht um.
»Guten Tag«, sagt sie im gleichen Tonfall, wie wenn der Herr oder die Herrin in die Küche kommen. So nennt sie Großvater und Großmutter, und in der Reihenfolge. Immer zuerst der Herr.
Aber wenn Nea auf der Treppe steht und uns empfängt, dann umarmt sie mich, und das duftet nach Vanille, und das wissen der Herr und die Herrin nicht, denn sie sind noch nie von ihr umarmt worden.
Nea duftet süß nach Vanille und Butterschmalz, alles an ihr ist weich: Ihre Hände, wenn sie mir die Wange streichelt, die Haut auf ihren Armen, wenn sie im Topf rührt, ihre Brüste, die unter der Schürze und unter dem Kittel wogen, wenn sie richtig feste rührt, damit die Soße nicht gerinnt.
Der Herr und die Herrin nennen Nea Signe. Ganz richtig und von Geburt an hieß sie sehr merkwürdig und mann-frau-artig, nämlich Hans Signe, aber das konnte Puer nicht sagen, als er noch klein war, deshalb nennen die Kinder, und alle die einmal Kinder waren, sie Nea. Manchmal, wenn Østen sie necken will, nennt er sie Hans.
Großmutter hatte gerade gesagt: »Aber mein Liebes ...«, und das ganze Unglück, das in mir war, konnte nicht heraus, obwohl ich weinte. Die Tränen und die Geräusche, die aus meinem Mund kamen, nahmen nur ein bißchen Druck weg.
Sie haben nicht mal auf Wiedersehen gesagt!
Vor langer Zeit fuhren wir mit der Straßenbahn zu den anderen Großeltern, Oma und Opa, meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich. Mutter war gut gelaunt und hatte meinen Bruder auf dem Schoß. Wir waren alle gut gelaunt, denn bei Oma können wir in der Badewanne baden und Frikadellen auf dem Wannenrand essen. Und aus dem Wasserhahn plätschert jede Menge heißes Wasser. Zu Hause kann man nur das Waschbecken mit lauwarmem Wasser füllen, wenn man Glück hat! Bei Oma machen wir Sauermilchbrösel aus trockenem Roggenbrot, das wir durch den Puppenfleischwolf drehen, und wenn sie weiß, daß ich zu Besuch komme, legt sie ihre Puppe von damals, als sie klein war, auf die Marmorplatte über der Heizung. Der Puppenkopf ist aus Porzellan und wird warm, wie bei einem richtigen Kind.
An diesem Tag vor langer Zeit hat mein Bruder sofort mit dem Puppenfleischwolf losgelegt, und ich habe Karen Margarethe umgezogen. Und dann hat Mama nicht einmal auf Wiedersehen gesagt! Und ich habe sie seither nicht mehr gesehen. Papa auch nicht. Ich habe versucht, die Augen zusammenzukneifen, aber das nützt nichts, auch nicht, sie so lange aufzusperren, bis sie tränen. Ich kann mich nicht an ihre Gesichter erinnern. Als Karen Margarethe alle ihre Kleider an- und wieder ausgezogen bekommen hatte und als eine ganze Wagenladung Sauermilchbrösel gemacht worden war und wir warm und sauber und satt in Omas weichem Bettzeug lagen, da habe ich sie schon vermißt, das tue ich sonst nicht, wenn wir bei Oma sind, weil ihr Bettzeug so gut riecht, und gleichgültig ob es Sommer oder Winter ist, sie stellt immer eine Kerze hinter einen kleinen Weihnachtsbaum aus grünen Pfeifenreinigern mit kleinen Glaskugeln in allen möglichen Farben. Sie hat nicht auf Wiedersehen gesagt!
Der nächste Tag zog sich wie der Haferschleim im Kindergarten. Oma telefonierte, und Oma telefonierte nicht, ich durfte sogar Buchstaben auf ihrer Schreibmaschine schreiben, aber nicht einmal das hat Spaß gemacht. Ich bekomme nur ganz selten die Erlaubnis dazu, weil es immer so endet wie das Spiel mit den flachen Händen, die man übereinanderlegt: im Kuddelmuddel. Die Buchstabenarme kommen falsch über Kreuz, und Oma muß sie vorsichtig wieder auseinanderklauben. Aber sie schimpft nie. Trotzdem war es kein richtiger Oma-Tag. Am Abend schaute Opa über seine Brille, und mit seiner sachlichen, gebrochenen Arztstimme sagte er etwas über ein Flugzeug und über ein Griechenland. Es fühlte sich an, als ob jemand ein Eisenstück an eine Stelle unter meinem Herzen gestoßen hätte und es drehte, immer weiter drehte, und alle Muskeln im ganzen Körper sich anspannten. Und es hilft auch nichts, wenn die Erwachsenen sagen, daß ich die Schultern nicht bis zu den Ohren hochziehen soll!
Mein kleiner Bruder versteht nichts, er ist immer klein und fröhlich und hat runde Backen, die in der Kälte ballonrot werden. Er hat dicke Knie und Grübchen auf den Ellbogen, und runde blaue Augen, und niemand auf der Welt darf ihm weh tun. Als ich noch klein war, bevor er geboren wurde, da wußte ich nicht, daß es etwas geben kann, das sich in einem drin so warm und wichtig anfühlt. Es blühte auf wie eine Feuerblume, als ich ihn das erste Mal sah. Bevor er geboren wurde, war ich die Kleine. Jetzt ist er der Kleine, und er versteht nichts, läuft durch seine Kindheit und ist Omas kleiner, neuer Kupferpfennig. Ich bin die Große. Und wenn die Große dauernd heult, dann heult auch der Kleine, und das ist blöd, denn er weiß ja nicht einmal, warum er heult.
Oma und Opa reden im anderen Zimmer miteinander und glauben, wir hören nicht, worüber sie reden. Dann geht Oma in Opas Büro und wählt eine Nummer. Auf Strümpfen schleiche ich ins Eßzimmer und höre, wie sie bittet, mit der Herrin sprechen zu dürfen. Ich kenne nur einen Menschen, der so bezeichnet wird, und kann mir denken, daß Nea am Telefon war. Es dauert ein bißchen, dann sagt Oma etwas, dann schweigt sie, und dann sagt sie »Du« und »Ja«, dann sagt sie in fragendem Ton Großvaters Vornamen, und dann sagt sie, sie wissen sich keinen Rat mehr.
»Nein, nein, sie will nicht essen und nicht schlafen. Sie fehlen ihr so schrecklich!«
Ich muß mir den Mund zuhalten und in die Hand beißen, damit ich nicht schreie. »Fehlen ihr so schrecklich«, nennt man es so? »Fehlen«, das klingt wie ein stiller, sanfter Sommerregen und nicht so, wie es sich anfühlt. »Schrecklich«, ja, aber »fehlen« ist ganz verkehrt. »Was fehlt ihr denn?« kann Doktor Marcussen fragen, wenn eines der Kinder sich nicht wohl fühlt. Oder Nea sagt manchmal, »es fehlt Geld in der Kasse«, wenn ihre Abrechnung nicht stimmt. »Tut mir leid, dieser Artikel fehlt kurzfristig« sagt der bucklige Tabakhändler fröhlich, wenn ein Kunde in seinen unfreundlichen Laden kommt und er die richtigen Bonbons nicht dahat. Er selbst ist auch unfreundlich und kann Kinder nicht leiden. Ich gehe auf jeden Fall nie zu dem Tabakhändler an der Ecke, wenn es nicht unbedingt sein muß. Und sollten mir Salmiakstangen fehlen, weil ich Lust auf Lakritz habe, dann würde ich meine Zehn-Öre-Münze niemals bei ihm springen lassen!
Wenn einem etwas fehlt, dann hat man etwas nicht, was man finden, bekommen oder kaufen kann, etwas, das irgendwie beschafft werden kann. Aber es tut nicht so schrecklich weh innen drin, daß ich mir den Mund zuhalten muß, um nicht zu schreien.
»Ja«, sagt die Oma erleichtert ins Telefon. »Das habe ich auch gedacht. Ja, der Hof und die Jungen und alles. Nein, nein, unser kleiner Kupferpfennig, der ist so einfach, er kann gerne hierbleiben.«
Ich laufe wieder ins hinterste Zimmer. Mein kleiner Bruder ist einfach, ich bin schwierig. Aber nur bis er es versteht, dann wird er auch schwierig! Er liegt auf dem Boden und sagt ga-ga, die eine Hand unter dem Kopf und die andere auf seinem