Sommer war es. Iselin C. Hermann

Sommer war es - Iselin C. Hermann


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mich nur mit seinen runden Augen an und steckt mir seine kleinen, dicken Finger in den Mund. Er ist einfach, weil er sie schon vergessen hat.

      Großmutter hat mich sogar in Kopenhagen abgeholt. Der Breite in Kopenhagen, das ist ein so merkwürdiger Anblick wie ein Indianer im Supermarkt oder die Palastwache auf einem Acker. Der Breite gehört auf die kleinen Straßen zwischen der Bahnstation und dem Hof, und natürlich nach Helsingör, wo die Großmutter einkauft und wo sie und ich auf dowdy gehen, das nennt sie so, wenn sie und ich uns vergnügen.

      Ganz, ganz früher hat einmal ein Prinz im Schloß von Helsingör gewohnt, er war ein bißchen verrückt und hieß Hamlet. Er ist mit einem Totenschädel in der Tasche herumgelaufen, er hat ihn immer wieder mal herausgeholt und mit ihm gesprochen. Sie müssen damals große Taschen gehabt haben, denn auf den Bildern, die es davon gibt, sieht er nicht aus wie ein Schrumpfkopf.

      Normalerweise gehen wir erst einkaufen, und dann gehen wir auf dowdy. Sie nimmt mich an der Hand, weil wir in Helsingör sind, wo es Autos gibt, und ich muß immer bei ihr bleiben.

      Ding. Dong. Die Türglocke vom Kaffeehändler Hassing klingt, wie es bei ihm riecht: braun und bittersüß.

      »Guten Tag Frau Direktor und guten Tag meine Kleine!«

      Ich finde es ausgesprochen merkwürdig, daß der Kaffeehändler die Großmutter so nennt. Großvater ist doch der Direktor, wie kann sie dann Frau Direktor sein? Und was, wenn Großvater Müllmann gewesen wäre? Und das mit dem Direktor, das ist er eigentlich nicht, wenn er zu Hause auf dem Hof ist und seine abgetragenen Arbeitskleider anhat, dann ist er hauptsächlich mein Großvater.

      »Was können wir heute für Sie tun?«

      Der Kaffeehändler Hassing strotzt vor Wohlstand und Freundlichkeit, er nimmt den Deckel von einem großen Glasgefäß. Es ist so groß, weil die Bonbons, die drin sind, die größten Bonbons sind, die ich je gesehen habe. Die Althea-Bonbons schmecken am besten, aber ich mag es nicht, daß Großmutter sie »Halts-Maul-Bonbons« nennt, das Wort paßt nicht in ihren Mund. Merkwürdig, daß sie es nicht selbst hört. Ich grabe in dem Gefäß nach einem Althea-Bonbon. Und ich werde es nie mehr machen! Großmutters Augen blitzen und der Blick bedeutet: »Würdest du das bitte bleibenlassen!« Der Blick ist schrecklich, und man kann ihn nicht mißverstehen. Ich werde zu einem geschmolzenen, schmierigen Klacks auf dem Linoleum von Kaffeehändler Hassing.

      »Was ist denn los?« Das Lächeln von Hassing ist ein Briefschlitz in einem viereckigen Gesicht, die Stimme so hellbraun wie sein Kittel. »Möchten wir heute kein Bonbon haben?«

      Wie kann er nur so was fragen? Er muß doch sehen, daß dieser Blick mich zu Boden geschleudert hat und ich nur noch mit dem Kopf schütteln kann.

      Großmutter kauft gebrannte Mandeln, getrocknete Pflaumen, dunkel gerösteten Java, eingelegten Ingwer, Pomeranzen, dunkle Schokolade und kandierte Veilchen. Alles an ihr ist geröstet, gebrannt, getrocknet und delikat. Die Räder der Kaffeemühle werden von einem großen Gummiriemen angetrieben, und wenn die letzten Bohnen in den Trichter fallen, macht es ein klirrendes Geräusch.

      »Kann das kleine Fräulein etwas tragen?« fragt Hassing, und das kann das kleine Fräulein, das Päckchen ist klein und leicht, in Packpapier eingewickelt und sorgfältig kreuz und quer mit einer Schnur zugebunden und mit einem Trageholz versehen, das trocken in meiner Hand liegt.

      Ding. Dong. Merkwürdig, daß es nicht andersherum klingt, wenn man den Laden verläßt!

      Der Kaufmann Brammer ist weniger viereckig, nicht so groß, aber genauso freundlich, sein Kittel ist blau und paßt zu seiner Nase. Wir reden nicht über das beim Kaffeehändler Hassing, und als Großmutter fünf Flaschen rote Brause verlangt, weiß ich, daß sie mir vergeben hat. Aber als der Kaufmann fragt, ob die kleine Helferin etwas haben möchte, schaue ich doch zur Großmutter hoch, ehe ich mich traue, ja bitte zu sagen. Beim Kaufmann Brammer ist es auch einfacher, die Marienkekse sind alle gleich. Ich nehme natürlich den obersten, und ich darf noch einen für die andere Hand nehmen. Ich muß das Trageholz loslassen, es ist inzwischen klebrig warm und dunkel geworden.

      Fleisch und Fisch, Milch und Brot kaufen wir nicht, weil Marinus zweimal pro Woche mit dem Brotauto kommt, das Fischauto von Hornbaek kommt auch, Fleisch haben wir selbst und Milch natürlich auch.

      Das Brotauto von Marinus finde ich am besten. Wenn er die Luke öffnet und das Brett vor den Herrlichkeiten herunterklappt, dann sieht er aus wie ein zufriedener Mann. Er hat Roggen und Weiß, wie er es nennt, und er zieht dabei die Luft durch die Zähne ein. »Roggen und Weiß, und was für den süßen Zahn.« Gewürzbrötchen, Zwieback. Schmalzgebäck mit buntem Zucker drauf, Kopenhagener mit weißer oder brauner Glasur, die Bienen wohnen im Wagen. Marinus ist so rund wie sein Auto, allerdings nicht so grün wie das Auto, Marinus sieht aus, als sei er gut über den Winter gekommen.

      »Wir sehen uns am Freitag wieder?« Nea hat alles, was auf ihrem Merkzettel steht.

      »Ja, wenn ich mich bis dahin nicht zur Ruhe gesetzt habe, es könnte ja sein, daß man alles verkauft und endlich von seinem Geld leben könnte!« Marinus saugt die Luft ein, schlägt die Autotür zu und streckt zum Abschied den Kopf aus dem Fenster. »Ja, dann könnte man vielleicht bis morgen kurz nach Mittag leben!«

      Er bringt Nea immer zum Lachen oder zum Lächeln oder dazu, daß sie wenigstens den Mund verzieht.

      »So, na ich denke, wir werden uns am Freitag sehen, nicht wahr?«

      Das Fischauto stinkt, obwohl die glänzenden Fische auf zerstoßenem Eis liegen und kalt sind. Die großen Hände des Fischhändlers sind rot, die Nägel viereckig und schwarz. Er schneidet der Scholle den Kopf ab, steckt den Zeigefinger in das blutige Rückgrat und zieht mit einer Eisenzange mit einem Ruck der Scholle die Punkte ab. Die fünfundzwanzig Öre, die er zurückgibt, übertragen den Fischgeruch auf das andere Haushaltsgeld in Neas Börse.

      Wenn Großmutter und ich beim Kaffeehändler Hassing und beim Kaufmann Brammer waren, die beide mit ihrer korrekten Berufsbezeichnung benannt werden müssen, sonst weiß ich nicht, von wem die Rede ist, dann kann es vorkommen, daß Großmutter noch zu Gracilette muß. Lieber Gott, bitte mach, daß Großmutter zu Gracilette geht. Hinter einem Glastisch, der so dick ist, daß er ganz blau aussieht, steht eine Dame, deren Haar die gleiche Farbe hat, nur ein bißchen heller. Man nennt es »gebläut«, und es ist genauso ordentlich in Wellen gelegt wie der Seidenstoff unter der Glastheke. In anderen Geschäften haben die Theken Beine, aber ich bin sicher, daß die Theke der Gracilette-Dame auf dem gewellten Stoff wie auf einer Wolke schwebt. Und die Dame benützt auch das, was die Großmutter kauft. »Und nur die feinsten französischen Präparate!« Handlotion, mit Betonung auf dem zweiten »o« und Rosenhölzchen. Wenn sie fertig bedient hat, sprüht sie ein wenig 4711 hinter meine Ohren und auf meine Handgelenke. So muß es sich anfühlen, erwachsen zu sein. Sie hat auch einen ganz hinreißenden Namen, sie heißt Frau Honoré. Wenn man mal so heißen könnte! Bestimmt hat Frau Honoré dem Schildermann gesagt, daß der Name ganz zart und in grüner Schreibschrift auf dem Schild stehen soll: Gracilette steht da, und ich mag Gracilette viel lieber als Hamlet, obwohl die beiden Namen entfernt verwandt zu sein scheinen. So wie Anton und Antonette. Aber so verrückt war er wohl nicht, daß er dem Schädel 4711 hinter die Ohrlöcher gesprüht hat, was? Das wäre Verschwendung gewesen.

      Møllers Konditorei liegt in der Stengade. Aber für mich ist das nicht dowdy, obwohl ich Apfelsaft und Finnenbrot bekomme, während Großmutter Tee trinkt. Dowdy ist der Kaffeehändler Hassing, Kaufmann Brammer und besonders Gracilette, und an Großmutters Hand auf dem Trottoir durch Helsingör zu spazieren und Großmutters alte Freundin zu besuchen, sie ist Lateinlehrerin im Gymnasium und wohnt im ältesten bewohnten Haus Dänemarks.

      Großmutter hat gerade gesagt: »Aber mein Liebes«. Der Breite hält an der Haupttreppe, die Jungen kommen zur Begrüßung heraus und haben ihre schwarzen Studentenmützen auf. Sie wollen ihr Begrüßungslied vom Pfarrhof Nødebro singen, aber die Großmutter winkt ab. Sie sollen aufhören. Østen läuft herunter und öffnet die Tür, wie ein Lakai für eine Königin, und verbeugt sich tief.

      »Nun, was haben wir denn hier? Wie schrecklich!« Er dreht sich


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