KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов
auf die Kommentare zu reagieren, sie hatte einige Fotos von besonders pittoresken Häuschen gepostet und die Frage in den Raum gestellt, was denn nun der große Unterschied sei zu Menschen, die, sagen wir, Hundefotos oder Mode-Selfies knipsten, aber nur Häme und sexuelle Beleidigungen geerntet. Odette, die in den sozialen Medien (was für ein Widerspruch, dachte Minnie immer) nie sonderlich aktiv gewesen war, reagierte auf ähnliche Kommentare indifferent. »Scheißer«, sagte sie und machte einen Screenshot, als jemand seine Ansicht äußerte, solche wie sie gehörten samt ihren Bruchbuden in die Luft gesprengt. Äußerlich unbewegt, meldete sie über- und untergriffige Postings und schickte die Screenshots, mit knappen Worten unterlegt, an die Staatsanwaltschaft. Langsam wendete sich erneut das Blatt, die Schlacht wurde erneut eine andere, und erste Unterstützer meldeten sich. »Ladylike«, ein alternativer Blog mit feministischem Background, rief zur Solidarität mit »Frauen, die unabhängige soziokulturelle Grundlagenforschung betreiben« auf. Die Initiative »gegen.netzhetze« prangerte die Bloßstellung der beiden Schwestern an und forderte vom österreichischen Presserat eine umgehende Stellungnahme zur rufschädigenden Berichterstattung im vorliegenden Fall. Ein smarter Anwalt nutzte die gegenwärtige Stimmung und trug sich (»Nur damit er bekannter wird, der Sack«, meinte Odette) als kostenloser Rechtsvertreter an. Ein junger, unsicherer Mann mit dunklen Dreadlocks und abgekauten Fingernägeln, der an einer, wie er es ausdrückte, Anti-Anthologie über Hasspostings arbeitete, kam zu ihnen nach Hause und hatte sichtliche Schwierigkeiten, seine Augen zumindest manchmal von Odette ab- und den Ausdrucken, die sie vorbereitet hatte, zuzuwenden. Minnie blieb in der Küche, wo sie verwundert den Austausch von privaten Nummern und der königlich-kühlen Zusage ihrer Schwester, mit ihrem neuen, fast schon lächerlich dankbaren Verehrer einmal auf ein Bier zu gehen, mit anhörte. Zum ersten Mal seit mehr als drei Wochen musste sie lächeln. Sie sah sich selbst, wie sie von Odette ein kleines Kind mit nussbraunen Wuschelhaaren entgegennahm, um es zu halten, während dessen Mutter gekonnt eine völlig verzogene Holztür öffnete und zur Kamera griff.
Dann öffnete sie das Küchenfenster, um wieder einmal ordentlich durchzulüften.
Geschichtenerzähler | Claudia Heyder
Es gibt Tage, an denen die Menschen die Orientierung verlieren. Wenn alles gleich aussieht, sobald der braune Staub sich durch jede Ritze des Mauerwerks frisst. Aber es gibt auch Zeiten, da hängt der Staub nur wie ein Unheil bringendes Tuch über uns. Es soll Kinder geben, die haben die Sonne noch niemals gesehen. Das wenige Licht, das zu uns durchdringt, verwandelte alles in eine karge Landschaft. Einzig die Bäume versuchen der stetigen Dämmerung zu trotzen und wir sind dankbar für die Luft, die wir atmen dürfen, selbst mit dem erdigen Geschmack auf der Zunge.
Mein Blick wandert von oben nach unten. Es besteht kein Zweifel, dass die schweren Stiefel an meinen Füßen die schlammige Farbe des Himmels angenommen haben. Vielleicht zur Tarnung. Zu spät!
»Los, weiter.« Ein heftiger Schlag mit dem Gewehrkolben holt mich aus meinen Gedanken. Der Schmerz bohrt sich in meinen Rücken, als ich mich in Bewegung setze, so wie ein Dutzend meiner Kameraden. Sie kamen am frühen Abend, trieben die jungen Männer wie Vieh in die Mitte des Dorfplatzes. Meine frisch geputzten Schuhe glänzten da noch, unübersehbar wie eine Bordelltür. Nicht dass ich wüsste, was ein Bordell ist, aber Großvater erzählte immer von dieser verlockend glitzernden Tür. Es ist nicht das erste Mal, dass uns der Trupp oder die Brut, wie wir sie nennen, holt. Jedes Jahr im Herbst überrennen sie das Dorf, suchen nach billigen Arbeitskräften, besser gesagt Sklaven für ihre Drecksarbeit. Denn dafür, dass wir unser Leben riskieren, ist der Lohn mehr als kläglich und eine Wahl haben wir nie.
Wir marschieren zwei Tage und vier Mal bebt die Erde. Zum Glück sind wir auf offener Fläche unterwegs. Die wenigen Blätter an den Bäumen segeln zu Boden und in den kälter werdenden Nächten rücken wir dichter zusammen. Am Morgen erklimmen wir meterhohes Betongeröll, und als unser Blick über die zerfallene Stadt schweift, macht sich eine gewisse Melancholie breit. Wir wissen alle, was wir verloren haben.
Damals, als ein Beben ungeahnten Ausmaßes die Erde aus dem Gleichgewicht brachte und Asche den Himmel verdunkelte. Die Alten sagen, wir waren zu gierig, hätten zu tief gegraben und haben die Welt in ihrem Ursprung mehr als einmal erschüttert. Andere meinen, wir wären zu laut gewesen. Es spielt keine Rolle, denn von Zeit zu Zeit bewegt sich die Erde. Mal heftig und dröhnend, dann wieder zaghaft wie ein Grashalm.
Plötzlich vernehme ich ein Summen, erkenne eine Melodie. Ich suche nach dem Vollidioten, der es wagt. Sam steht nur eine Armlänge vor mir. Ohne zu zögern, boxe ich in seine Seite und fauche ihn an: »Hör auf oder willst du uns alle umbringen!« Er verstummt, dreht sich zu mir. Ich verstehe nicht, was mir der starre Blick und sein zuckender Oberlippenschnauzer sagen wollen. Er weiß doch, dass jegliche Art von Musik mit dem Tod bestraft wird. Da ist es egal, wie wenige wir noch sind. Die Gesetze der Brut sind bindend für alle, erst recht, wenn wir mit ihnen zusammen Beute greifen. Ein Befehl dröhnt über unsere Köpfe hinweg und wir machen uns daran, die Flut an Gestein zu überqueren, immer auf der Suche nach einem brauchbaren Objekt.
Gegen Mittag marschieren wir durch menschenleere Straßen. Die Brut nimmt uns in die Mitte, sie halten die Gewehre im Anschlag und beobachten wachsam die Umgebung. Sie beschützen uns nicht aus Nächstenliebe, lebendig sind wir mehr wert, denn niemand kennt die alten maroden Häuser so gut wie wir. Unsereins geht an die verlassenen Orte, zu denen sich nicht mal der Teufel traut. So kamen wir zu unserem Namen, Maulwürfe.
Eine Windböe weht die Straße entlang, wirbelt Staub auf, als wir unser Ziel erreichen. Aus dem Grau taucht vor uns eine einst prachtvolle Jugendstilvilla auf, ihr historischer Charme wirkt in dieser Gegend befremdlich. Bei erster Betrachtung gut erhalten, scheint nur das Dach etwas beschädigt. Doch wir wissen es besser. Mein Blick fällt auf die breite Holzflügeltür im Eingang, die sich in diesem Augenblick einen Spaltbreit öffnet. Ein Schatten huscht durch die Öffnung. Alle Gewehre zielen in seine Richtung. Unruhe breitet sich in der Truppe aus. Ich höre diverse Befehle, weiß nicht, für wen sie bestimmt sind. Vernehme die Schreie meiner eigenen Leute, die dem Schatten zurufen, stehen zu bleiben. Er zögert, sieht uns an, entscheidet sich und läuft los. Mehrere Kugeln treffen den Jungen in die Brust, seine dünnen Arme fliegen nach oben, er fällt nach hinten, zuckt ein letztes Mal und bleibt reglos liegen. Für einen Moment herrscht Stille, die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich, bis der Befehlshaber auf mich und Sam zeigt. »Du und du schafft das aus dem Weg und für die anderen eine Viertelstunde Pause.« Ich werfe Sam einen Blick zu, gehe vorweg, betrete den verwilderten Vorgarten. Wir bleiben vor dem durchlöcherten Körper stehen. Der Junge hat keine zehn Winter erlebt, seine starren Augen zum Haus gerichtet. Ich weiß nicht, was er dort sucht oder zu finden glaubt. Meine Finger schließen seine Lider. Sam greift nach seinen Beinen, ich nach den Armen. Wir heben ihn an, sein Kopf fällt nach hinten, Blut tropft von der abgewetzten Kleidung. Ich halte Ausschau nach was Brauchbaren, aber er besitzt nichts, trägt nicht mal Schuhe. Wir legen ihn ein paar Meter weiter unter einer alten Linde ab und Sam zieht ohne Vorwarnung seine Mütze. Ein verstohlener Blick zurück zur Truppe lässt mich nervös werden. »Sam, hör auf und komm endlich.« Doch er denkt gar nicht daran, stattdessen beginnt er leise, vor sich hin zu singen. Ich hoffe inständig, dass uns niemand beobachtet. Wir spüren für einen kurzen Moment die Vibration unter unseren Füßen. Stille greift um sich. Zum Refrain kommt mein Freund nicht. Ohne Vorwarnung reiße ich ihm die Mütze aus der Hand, platziere sie auf seinem Kopf und bugsiere ihn ziemlich unwirsch zur Truppe zurück.
Noch bevor ich meine Wasserflasche ausgetrunken habe, werden wir ins Haus kommandiert. Die Brut schickt niemals die eigenen Leute hinein, viel zu kostbar ist ihre Sippschaft, die für Sicherheit, Wohlstand und Nachwuchs sorgt. Wenn nicht mein Leben von diesem maroden Gebäude abhinge und ich fast alles an gefundenen Sachen abgeben müsste, könnte der Begriff Schatzsucher beinahe schillernd klingen. In einer Welt, die nichts Strahlendes zu bieten hat.
Mit beiden Händen stemmt der Kamerad vor mir die hölzerne Flügeltür auf. Das stattliche Foyer liegt beruhigend, für manche sogar einladend vor uns. Der Boden sowie die wenigen Möbel und die Treppe nach oben sind von einer zentimeterdicken