KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов

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ruhiger. Die Lehrerin schrieb dies dem Gewöhnungseffekt und ihrer Unterrichtsdisziplin zu, der Vater dem Alter.

      Das Haus des Großvaters verfiel unterdessen. Sein Gewand wurde zur Altkleidersammlung gegeben, das Geschirr zum Großteil auf den Pfarrflohmarkt, die Möbel nach und nach verkauft, andere verheizt. Anfangs ging die Mutter, wenn sie etwas Zeit erübrigen konnte, zum Haus, um die Blumenbeete zu wässern, Unkraut zu jäten und die Vogeltränke nachzufüllen. Auch die letzte Tomatenernte fiel gut aus. Im Herbst wurden ihre Besuche seltener, und irgendwann stellte sie sie ganz ein. Von keiner Heckenschere, von keinem Rasenmäher gezügelt, verfielen die Pflanzen in euphorisches Wachstum: Wiesennelken reckten ihre Köpfe den Sonnenblumen entgegen, die wild neben dem Vogelhäuschen aufgegangen waren, Löwenzahn und Disteln liebäugelten mit den Ritzen zwischen den Terrassensteinen, die der Winter für sie Jahr um Jahr verbreiterte. Der Zwetschgenbaum, alt, bemoost und in diesem Jahr beladen mit winzigen, ungenießbaren Früchten, ließ einen Ast zu Boden fallen. Die grüne Farbe an den hölzernen Fensterrahmen und der Tür, daran gewöhnt, Jahr um Jahr von gewissenhaften Pinselstrichen erneuert zu werden, blätterte ab, erst zaghaft, dann forsch und beherzt. Als der Wind ein Fenster eindrückte, nagelte der Vater von außen Bretter davor. Das Dach ließ die Schultern hängen. Ein Amselpärchen nistete im Windfang, zwei Elstern im Schornstein. Von keiner Heizung, keinem sommerlichen Stoßlüften jemals aufgetrocknet, kroch die Feuchtigkeit durch die Holzböden und langsam, gemächlich, die Wände hinauf.

      Im Inneren des Hauses bedeckte der Staub alle Oberflächen und ließ die Kinder rätseln, woher er wohl komme. Der Mutter hatten sie versprechen müssen, das Haus wegen der vielen Gefahren, die diese dort lauern sah, nicht zu betreten; den Schlüssel vermisste sie jedoch nie. Man musste nur sorgsam aufpassen, das Gras vor der Haustür nicht zu zertrampeln, den hohen Schierling, der im Schuhrost wurzelte, nicht zu knicken, keine neuen Spuren zu hinterlassen, wo die Natur dabei war, alte zu tilgen. Die Mädchen kamen fast täglich. In einem Erdverlies unter dem Küchenboden fanden sie Rexgläser, die dem Blick der entrümpelnden Verwandtschaft entgangen waren: Fisolen, Kirschen, Salzgurken. Sie aßen mit den Fingern und stellten die Gläser anschließend säuberlich an ihren verborgenen Platz zurück. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer, tupften vorsichtig auf blätternden Verputz und bewunderten die Bauern bei der Ernte an der Wand im Schlafzimmer, wo vor Kurzem noch das große Bett gestanden hatte. Sie drehten die tauben Wasserhähne auf und zu und brachten die Waschschüssel aus Emaille mit Steinchen zum Klingen. Sie bemalten die Wände mit Bröckchen von Ziegelsteinen. Minnie versuchte, sich wie das Mädchen aus einem ihrer Bücher an die Küchenlampe zu hängen, doch sie riss ab und zerbrach.

      »Aus euch kriegt man ja gar nichts mehr heraus«, beklagte sich die Mutter, wenn sie auf ihre Frage, was die beiden denn den ganzen Tag getrieben hätten, ein knappes »Nichts« zur Antwort bekam.

      In ihrem Abschlussjahr beschäftigte sich Minnie intensiv mit dem Thema Tod. Sie maturierte mit Bestnoten in den Fächern Geschichte, Religion, Psychologie und Philosophie, ließ ansonsten aber zu wünschen übrig. Odette war noch schwächer, rettete sich gegen Jahresende lediglich durch ihre schnelle Merkfähigkeit und wurde dennoch zweimal aus reiner Gefälligkeit versetzt. Faul, urteilten die Lehrer. Unkonzentriert, bleiben weit hinter ihrem Potenzial zurück. Odette bekam eine Betragensnote, nachdem sie einem Klassenkameraden, der ihr auf die Toilette nachgeschlichen war, die Nase gebrochen hatte, indem sie ihn an den Haaren packte und sein Gesicht gegen den Spiegel geschmettert hatte. Die Schulleitung bat die Eltern zu einem Gespräch, diese einigten sich, auf Anzeigen zu verzichten – der Vater des Burschen auf eine wegen Körperverletzung, Odettes Vater wegen sexueller Belästigung.

      Nach der Matura teilten sie sich eine Garçonnière.

      »Ich denke, diese Woche noch, höchstens zwei, dann können wir den Bezirk abschließen«, meinte Minnie später, als sie ihre Mails gecheckt und nochmals, endlos, wie es Odette schien, telefoniert hatte. »Das von gestern würde ich mir aber gern noch mal gesondert ansehen. Das fällt aus dem Rahmen, irgendwie. Oder was meinst du?«

      Odette nickte gedankenverloren. »Auf jeden Fall«, antwortete sie dann.

      Auf die immer seltener werdenden Nachfragen der Verwandtschaft, was sie denn nun eigentlich täten (Capricen!), antworteten die Zwillinge, sie würden stundenweise als Sekretärinnen arbeiten. Von ihrem privaten Projekt, das den größten Teil ihrer Zeit in Anspruch nahm, erzählten sie nichts. Minnie recherchierte, telefonierte, wertete aus, fasste zusammen und vervollständigte wöchentlich die Karte. Odette fotografierte: verlassene Häuser, leer stehende Häuser, verwaiste Häuser. Einsturzgefährdete Bauernhöfe, aufgelassene Wohnblocks, zwangsgeräumte Nebengebäude, in Vergessenheit geratene Jagdhütten, ausgebrannte Kaufhäuser, in Konkurs gegangene Hotels, seit Jahrzehnten nicht mehr benützte Wochenendhäuschen. Errichtet im vorigen Jahrhundert, im vorvorigen oder erst neulich. Sie gingen methodisch vor, durchforsteten die letzten verwilderten Parzellen in frisch verdichteten ehemaligen Vororten, sie tasteten sich durch Gewerbeparks und hangelten sich durch gottverlassene Dörfer mit seltsamen Namen wie Einöd am Weg oder St. Pankraz in der Gegend. An manchen Stellen ihrer Karte entstanden seltsame Ballungsräume, an anderen war Leere.

      »Das Leben ist eben lebensgefährlich«, hatten die Tanten der zehnjährigen Minnie ins Gesicht gelacht, und »der Tod gehört zum Leben«, hatten die Onkel beschieden. Dass Letzteres den Tatsachen entsprach, bewiesen die Heerscharen alter Frauen, zum Friedhof pilgernd, die zentnerweise gepflanzten pflegeleichten, farbenfrohen Blumen zu ihren Füßen, violett, gelb, weiß.

      Aber die Häuser. »Jedes Haus stirbt anders«, hatte Minnie einmal erklärt. »Manche tun es würdevoll und richtig mit Stil, bleiben stattlich, auch wenn sie nur mehr ein Haufen alter Steine sind, eben weil sie mehr als nur ein Haufen alter Steine sind. Andere wiederum verweigern, die scheinen trotzig zu sagen, egal, ich brauch euch Menschen sowieso nicht, ich denk ja gar nicht dran. Wieder andere entfalten eine Beschaulichkeit, richtig romantisch, die sie früher sicher nicht hatten. Oder eben nicht in diesem Ausmaß. Wie Frauen, die jung gar nicht einmal besonders hübsch sind, im Alter aber mit tausend Falten und weißen Haaren dieses Strahlen bekommen. Ich meine die Häuser, die nur von blühendem Unkraut bewachsen und nur von ganz putzigen Vogerln besiedelt werden und in die garantiert noch nie ein Sandler oder ein Junkie gepisst hat. Verstehst du, was ich meine?«

      Odette hatte genickt.

      »Manche sind traurig, weinen mit jedem Stein den Tagen nach, in denen sie bewohnt waren. Und dann gibt es noch die, die das Alter und die Einsamkeit bösartig macht. Die die ganze Atmosphäre rundherum vergiften mit ihrer bloßen Anwesenheit.«

      Odette hatte zugestimmt; gefühlvolle lange Ansprachen waren nicht ihre Stärke, aber dass sie genauso dachte, zeigten ihre perfekten Fotos: Sie zeigten die Persönlichkeit der ihres einzigen Daseinszweckes beraubten Gebäude, diejenigen überdauernd, denen ihre Existenz gewidmet war, ihre beredte, vollgepferchte Leere. Sie waren geplant worden, gebaut, bezogen. In ihnen waren Mahlzeiten gekocht und gegessen worden, in manchen von ihnen unter Gelächter und Gerede, in manchen bei freudlosem Schweigen; Geschirr war gespült worden, Wasser verschüttet und wieder aufgewischt. Menschen waren gut miteinander ausgekommen oder sich hasserfüllt aus dem Weg gegangen, hatten krank im Bett gelegen, waren geboren worden oder gestorben. Sachen waren zum ersten Mal passiert: der erste Schritt eines Kindes, die erste Post im Briefkasten, der erste Anstrich an der Wand, das erste Feuer im Ofen. Und Sachen waren zum letzten Mal passiert: ein letztes Mal hatte jemand die Toilettenspülung gedrückt, ein letztes Mal hatte sich jemand innerhalb dieser Mauern geliebt, ein letztes Mal das Licht abgedreht, ein letztes Mal jemandem einen guten Morgen gewünscht. Da war der Hof, einst, laut Grundbuch, inmitten Weines und Feldern gelegen, heute direkt an der ekelhaft kurvigen Bundesstraße. Unterhalb des Straßenniveaus, man hätte die Tür nach außen nicht mehr öffnen können, wirkte er klein, verloren, an den Fenstern noch Vorhänge, von einer tüchtigen Hausfrau genäht und aufgehängt. Die Frühstückspension, jedes Zimmer noch ausgestattet mit Radio am Kopfende der Betten, einst der letzte Schrei des Komforts. Sie wirkten überrumpelt, wie jemand, der sich fassungslos fragt, wie das denn hatte passieren können. Da war das Ferienhäuschen, voll lieblicher Details, die saftigen Moospolster, die vom Giebel herableuchteten, die entzückenden Eichhörnchen, die über die Terrasse flitzten. Drinnen eine museumshafte Idylle, ein Wanderstecken an


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