KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов

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dass Odette Glück gehabt habe und die Gendarmen sehr entgegenkommend gewesen seien, angesichts der Hysterie der Nachbarin. Odette lächelte und hob eine Schulter. »Dann lass mal sehen«, meinte Minnie, plötzlich entspannt. Sie griff nach der Kamera und klickte durch die Aufnahmen, die Odette gemacht hatte. Es war gespenstisch.

      Dass die Zwillinge eigentlich Klara und Sybille hießen, war kaum jemandem mehr gegenwärtig, am allerwenigsten ihnen selbst. Viel zu früh geboren, nachdem ihre Mutter beim Blumengießen über den Gartenschlauch gestolpert und hart gelandet war, glaubte kaum einer der Spezialisten für Neonatologie an ihr Überleben: zu schwach, zu unterentwickelt, Sybille litt zudem an heftiger Gelbsucht, beide an atemdepressiven Zuständen. Als man sie jedoch auf Wunsch der Mutter, der es, von Schuldgefühlen gepeinigt, das Herz zerriss bei der Vorstellung, dass diese winzigen und unfertigen Wesen nun mutterseelenallein und getrennt voneinander sterben sollten, in einen gemeinsamen Brutkasten verlegte, trat das ein, worauf keiner mehr zu hoffen den Anlass gesehen hatte. Ihr Zustand besserte sich. Die Krankenschwestern beobachteten staunend, die Eltern unendlich dankbar, die Ärzte vorsichtig optimistisch, wie die beiden, schleppend, Gramm für Gramm, zunahmen. Die Ärmchen, anfangs so dick wie der kleine Finger der Mutter, ähnelten bald ihrem Daumen, schließlich dem des Vaters. Die blaurote Haut glättete sich, die Schläuche und Nadeln, die in ihre Nasen, in ihre Kopfhaut führten, wurden nach und nach entfernt, ihr Atem stabilisierte sich. Klara zeigte deutliche Reaktionen, wenn die Mutter, penibel desinfiziert, durch das Loch im Brutkasten mit ihr sprach und sie streichelte. Die Eltern bestanden darauf, die Mädchen gemeinsam nach Hause zu holen, obwohl Sybille gute zehn Tage vor ihrer Schwester hätte entlassen werden können.

      Je größer ihre Mädchen wurden, desto deutlicher wurde der Mutter, dass sie sich von den heiteren Zwillingsszenarien, die sie sich ausgemalt hatte, verabschieden musste. Beide Mädchen waren still und eigenbrötlerisch.

      Klara blätterte, noch bevor sie lesen konnte, wie die lesefaule Mutter stolz bemerkte, in Märchenbüchern und spielte ihre Lieblingsszenen unermüdlich mit Kuscheltieren nach. Sie baute ihnen Nester, fütterte sie mit selbstgekochten Fantasiespeisen und fertigte Wandschmuck für ihre Kartonhäuschen an. Bis weit nach ihrem fünften Geburtstag lutschte sie am Daumen und brach beim geringsten Anlass in Tränen aus.

      Sybille war anders, sie sammelte Knöpfe, Murmeln und kleine Figürchen, die sie stundenlang zu großflächigen, komplizierten Mustern auf dem Kinderzimmerboden anordnete. Das Sprechen lernte sie spät. Die Hauskatze Murli hatte einen Narren an ihr gefressen, und oft sah man die beiden Freundinnen Seite an Seite vor dem Holzstapel in der Sonne sitzen oder konzentriert die laufende Waschmaschine beobachten. Ihre Augen waren klar und scharf, und häufig überraschte sie den Großvater damit, dass sie die Unterschiede bei den Fehlersuchbildern seiner Tageszeitung schneller fand als er. Das Mädchen gerate nach ihm, befand er stolz, das werde einmal eine ausgezeichnete Jägerin, eine ausdauernde und gute Beobachterin und hatte nicht ständig die Pappalatur offen.

      Klara dachte an die armen Tierkinder und verweigerte kreischend wochenlang Fleisch, wenn der Vater oder der Nachbar wieder einmal einen Hasen oder ein Wildschwein nach Hause gebracht hatten, bis man ihr schließlich, entnervt, eine »fleischlose Extrawurst« kochte, wie der Vater süffisant bemerkte.

      Krank wurden beide selten und nur gleichzeitig. Während Klara, weinerlich und wehleidig, nach Tee und Mama verlangte und nachts zu Sybille ins Bett kroch, lag Sybille lobenswert still und äußerte nur selten Widerspruch zum Geschehen im Krankenzimmer. Als Klara eines Tages, fiebrig und zutiefst unglücklich, die Mutter nach dem Gutenachtkuss nicht aus dem Kinderzimmer lassen wollte, sah diese, wie Sybille ihre Lippen bewegte. »Was hast du gesagt?«, wollte sie wissen. »Minnie«, wiederholte das Kind. Richtig, Klara trug ihren Mickey-Mouse-Pyjama, auf dem sich neben dem Mäusepaar einige andere Figuren aus Disneys Universum tummelten, darunter die Kuh Klara, die die Mutter insgeheim schon immer ekelhaft gefunden hatte. Als die Mutter am nächsten Tag ihre Töchter wecken kam, bestätigte Sybille, sie und »ihre Minnie« hätten brav geschlafen.

      Der Name fand rasch Verbreitung, wurde von den anderen Kindergartenkindern aufgegriffen und schließlich sogar von der Kindergartentante, einer frömmlerischen Dame namens Martha, zugezogen aus der benachbarten Gemeinde, verwendet. »Ihre Minnie ist ein reizendes Mäderl«, pflegte sie der Mutter beim Abholen oder bei zufälligen Begegnungen süßlich lächelnd mitzuteilen. »So ein herziges Pupperl.« Ganz anders die andere, bei der rede man gegen eine Wand. In der Tat war Minnie wie gemacht für ihren neuen Namen: zierlich, schwächlich, blässlich, mit großen Augen und trotz ihrer Sturheit weich und verletzlich. Sybille dagegen war robuster, gleichgültiger, kaum zugänglich und oft in seltsame Beharrlichkeiten verbissen, beispielsweise ihre häufigen Weigerungen, an einer bestimmten Stelle die Straße zu überqueren. Ein rechter Trampel halt, wie manche Verwandten für sich befanden, und das Grüßen konnte sie auch nicht.

      Alles in allem aber, da waren sich alle einig, war es schon ein großer Segen, wenn man bedachte, wie alles angefangen hatte, und diese Capricen, wie die Taufpatin der beiden gespreizt bemerkte, werden sich schon auswachsen. Normalerweise gab man nicht allzu viel auf ihre Meinung, denn sie redete mit der gleichen Bestimmtheit auch von Ahnenkulten und Kommunismus, doch im vorliegenden Fall schien sie recht zu behalten.

      Die Probleme begannen, als der Großvater starb. Während er wie üblich bei seinem aus Milchkaffee, Marmeladekipferl und Betablockern bestehenden Frühstück saß, griff er sich kurz ans Herz und wurde einige Stunden später von seinem Sohn, der ihm ein paar Scharniere vorbeibringen wollte, unverändert vorgefunden. Die Hand an der Brust, die Kronenzeitung aufgeschlagen, das Kipferl von Fliegen umsummt. Es sei ganz schnell gegangen, meinte der Arzt, er habe so gut wie nichts gespürt. Ein schönes Alter habe er erreicht, fanden auch die Eltern und trösteten sich damit, dass er bis zum Schluss ganz selbstständig und bis auf die Herzgeschichte kerngesund gewesen sei. Minnie, um die man sich Sorgen gemacht hatte – lange überlegte man, wie man ihr die Nachricht so schonend wie möglich beibringen konnte – ließ sich rasch beruhigen durch die Vorstellung, der Opa sei nun im Himmel bei der Oma daheim und schaue jeden Tag auf sie herunter. Sybilles Reaktion hatte keiner erwartet.

      Sie war fast jeden Tag eine Stunde nach dem Mittagessen zum Großvater hinüberspaziert und hatte so lange an seine Tür geklopft, bis er aus dem Mittagsschlaf erwachte. Daraufhin hatten sie jeder zwei Kekse gegessen, zum Munterwerden (Sybille mochte am liebsten die mit der Marmelade in der Mitte, der Großvater Schichtgebäck, das er Wafferl nannte) und die Zeitung noch einmal durchgeblättert, um zu kontrollieren, ob auch alle Rätsel richtig gelöst waren. Dann waren sie zu ihrem Rundgang aufgebrochen, zuerst zu den Tomaten, die in Kübeln entlang der Hausmauer wuchsen, weiter zu den Himbeeren und den Ribiselstauden und von dort in einem langen Bogen zurück zum Haus. Im Winter gab es freilich keine Tomaten oder Himbeeren, dafür ein Vogelhäuschen und Vogerlsalat im Mistbeet, von dem man laut Sybille, die wiederum den alten Mann wörtlich zitierte, groß und stark wurde.

      Die unerschütterliche Sybille wurde nach dem Tod des Großvaters ernstlich krank, und das zum ersten Mal alleine: Sie fieberte hoch, schlug um sich, um gleich darauf wieder völlig apathisch vor sich hin zu wimmern. Der Hausarzt gab ihr eine Spritze, die sie den ganzen Tag lang, für den man die Beerdigung angesetzt hatte, in einen betäubungsähnlichen Schlaf fallen ließ. Minnie, verstört und mit rot geweinten Augen, wich ihr nicht von der Seite, ebenso die alte Nachbarin, die auf die Mädchen aufpasste und sich vergebens bemühte, Minnie mit Kakao und dem Fernsehkasperl vom Bett ihrer Schwester wegzulocken.

      Als Sybille wieder aufwachte, wirkte sie so desorientiert, dass die Eltern erneut den Arzt riefen. »Na, wen haben wir denn da?«, fragte dieser onkelhaft beim Eintreten. Odette, antwortete Sybille, und dabei blieb es. Niemand verstand, wo sie diesen Namen herhatte.

      Sie begann in den Wochen darauf, sich selbst zu schlagen, kurze, trockene Schläge auf den Kopf, die die Mutter, ohnehin schwer strapaziert, zusammenzucken ließen. Das Kind machte ins Bett und lehnte neue Kleidungsstücke ab. Die Einschulung wurde eine Katastrophe. Odette gebärdete sich wie ein wildes Tier, Minnie weinte verzweifelt und weigerte sich, die Hand ihrer Schwester und die ihrer Mutter, die sie umklammert hielt wie eine abstürzende Bergsteigerin, loszulassen. Mit der Zeit bemerkte die Mutter jedoch eine Beruhigung der Situation, die mit einer winzigen Verschiebung in der Beziehung der Zwillinge zueinander begann:


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