KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов
Wanderer wachgeküsst zu werden.
Da waren die vielen bescheidenen Altenteile, gebaut ohne große Erwartungen und ohne große Ansprüche, aber solide. Da waren die leer stehenden Villen, geplant, gebaut, verziert und ausgestattet comme-il-faut, und die nun, verlassen, verwittert, verfärbt, noch immer die Atmosphäre von lautem Gelächter, Pianomusik und der Vorfreude reicher Boudoirs in sich trugen. Da waren die riesigen Fabriken, die ihre Schlote stur in die Luft reckten und statt einer Vielzahl an Arbeitern nun einer Vielzahl an Ratten eine Lebensgrundlage boten. Da waren die vielen unscheinbaren Häuschen, die sich immer ohne die geringsten Variationen wiederholende Geschichte – verstorben – vererbt – verschmäht – erzählten, und denen Minnie aus schierem Mitleid am liebsten jedes Mal mit Putzlappen, Dispersionsfarbe und Besen zu Leibe gerückt wäre. Da war die Reihenhaussiedlung, die in Kürze einer Umgehungsstraße weichen würde: Seite an Seite, die Eternitfassade angegraut, starrten die Häuser angepisst in die Luft. Ihr Innenleben war restlos leer, die ehemaligen Bewohner hatten bei ihrer Übersiedlung alle Habseligkeiten mitgenommen, lediglich an manchen Küchenfenstern leuchteten die Aufkleber mit Fliegengift. »Arschlöcher«, schienen sie zu murmeln, »verdammte Arschlöcher«. Da war die ausgebrannte Fleischerei mit Wohnräumen im Obergeschoss, eines ihrer ersten Häuser. Ob aus versicherungstechnischen Gründen oder aus schlichter Lähmung hatte man einen Gutteil des verkohlten Interieurs so belassen, wie es war, und nur den gröbsten Unrat beseitigt. Die weißen Fliesen waren von einer fettigen schwarzen Schmier überzogen, Möbel und Gebrauchsgegenstände zu einem grausamen Abklatsch ihrer selbst zusammengeschrumpft. In den Betten der Kinder waren noch Reste der Decken, eines von ihnen war bei dem Brand erstickt. Euch krieg ich, giftete das Zimmer.
Da waren die vielen Hinterlassenschaften: Der Gartenzwerg, der, seine Laterne provokant erhoben, überdauerte, wo einst ein Beet gewesen sein musste. Da war das Gartentor, das, fest eingemauert, ein guter Hinweis darauf war, dass hier einmal ein Zaun gestanden haben musste. Die zwanzig Korbflaschen, die verrieten, dass hier einmal jemand gern ein Glaserl Wein getrunken und wohl immer eine rechte Gaudi gehabt hatte; der Teddy, steif und muffig; die Legion an Öfen: Kachelöfen, Kochherde, Heizkörper, Heizspiralen, Gaskonvektoren.
Und da war das Haus von gestern. Nummer 978 auf ihrer Liste, weiß, Doppelglasfenster, Mistbeet im Garten, Briefkasten außen am Zaun, erbaut 1948 von einem Franz und einer Helga Reitlbauer, hundertzwei Quadratmeter. Helga, damals bereits achtunddreißig und seit 1939 verwitwet, hatte im Vorjahr den fünfunddreißigjährigen Kriegsheimkehrer Franz geheiratet. Als gelernte Fleischereigehilfin fand sie in den kargen Nachkriegstagen nicht sofort eine Anstellung, wohingegen Franz, HTL-Absolvent und gelernter Zeichner, laut Mikrofilmen, die Minnie in der Bibliothek aufstöberte, beim Wiederaufbau tatkräftig mithalf und wohl die eine oder andere Ladung Baumaterial für sich abzweigen konnte. Die Ehe blieb bis 1950 kinderlos, dann, plötzlich, kamen nacheinander Josefine (1951), Franziska (1952) und Florian (1954) zur Welt. Franz, der über seine Kriegsvergangenheit nicht reden mochte, trank immer mehr, die Jahre 1955 bis 1961 zeigten häufiger werdende Aufenthalte in der Ausnüchterungszelle. Im Frühjahr 1961 verließ er, bereits deutlich angetrunken, das Wirtshaus, in dem er zu Mittag gegessen hatte, und geriet frontal vor einen Pkw, der zwar geistesgegenwärtig schnell, wie die Polizei gegenüber der Zeitung betonte, angehalten wurde, jedoch trotzdem nicht schnell genug, um ein Schädel-Hirn-Trauma bei Franz zu verhindern. Er wurde als Pflegefall in eine Anstalt eingewiesen, wo er 1968 starb. Helga, nunmehr zum zweiten Mal verwitwet, nahm eine Stelle als Wurstverkäuferin an, was gemeinsam mit der Witwen- und Waisenrente für sie und die Kinder reichte. Franziska begann eine Ausbildung als Hebamme, Josefine als Krankenschwester, beide kamen im Bezirkskrankenhaus unter. Florian verließ die Schule, sobald es ging, heiratete keine vier Jahre später eine Tschechin namens Adela, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, wurde ein Jahr später wieder geschieden. Als Helga 1986 starb, setzte sie ihre Töchter als ausschließliche Erbinnen ein, die wiederum ihren Bruder das Wohnrecht einräumten, bis dieser Anfang der Neunzigerjahre das Land verließ. Seitdem stand das Haus leer.
Als sie das Haus betrat, spürte Minnie ihre Anspannung, die sich über ihre Brust bis tief in die Achselhöhlen zog. Zu ungeduldig, um abzuwarten, bis ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, machte sie ein paar tastende Schritte, stieß gegen etwas, stolperte. Odette griff nach ihrem haltlos tastenden Arm, hielt sie fest. »Na, was meinst du? Warte, komm lieber in das Zimmer hier. Ich wollte nichts unternehmen, bevor du es nicht gesehen hast.« Als Minnie sich daraufhin hin und her drehte, vorsichtig ein paar Schritte in die eine, ein paar Schritte in die andere Richtung machte, schüttelte Odette den Kopf. Sie holte ihr Smartphone hervor und leuchtete damit auf die Bodenleiste. »Hier, schau.« Minnie trat näher, kniete sich auf das klebrige Linoleum und schaute auf den blasshellen Flecken synthetischen Lichts. Die Zeichen waren winzig. Sie zogen sich beharrlich wie eine Ameisenstraße die Sesselleiste entlang, dort wo Kratzer am Boden die frühere Position von Möbelstücken verrieten, bildeten panische Kolonien.
»Ich denke, das war ein Kind«, sagte Odette. »Nur ein Kind kann sich unter einem Kasten oder unter einem Bett verkriechen und auch noch Nachrichten hinterlassen.«
Minnie stand auf. Sie musste sich räuspern. »Wir sollten zur Polizei gehen.«
Odette nickte. »Das dachte ich mir.«
Der Wirbel, der daraufhin folgte, kam für die einen ungelegen, für die anderen überraschend, für wieder andere war er eine willkommene Abwechslung, einig waren sich jedoch alle, dass er einzigartig in der Zweiten Republik war und endlich, wie eine Anrainerin bemerkte und dabei die Kapuze zurückstrich, um ihre praktische Kurzhaarfrisur im Fernsehen besser zur Geltung zu bringen, den leidigen Fall Kampusch ablöste, der für viele Leute ohnehin nicht ganz koscher war, sie wolle jetzt aber nichts Näheres zu Frau Kampusch sagen, sonst heiße es gleich wieder.
Bagger rückten an, Kriminologen, Gutachter, Journalisten und Schaulustige. Man fand etwas, das schon, aber vorerst unklar blieben Alter und Ursache. Aber was war denn nun wirklich passiert? Diese Frage, in den Köpfen der Menschen bis weit über die Grenzen Österreichs hinaus penetrant herumschwirrend wie eine späte Herbstfliege, wurde wieder und wieder durchbesprochen, um diese Spekulation ergänzt, um jene Vermutung ausgebaut und durch die zahlreichen nebulösen Pressekonferenzen der zuständigen Behörden dergestalt befeuert, dass sie schließlich zu einem unüberschaubaren Geflecht an Antworten ausuferte.
Der alte Reitlbauer, hieß es, wenn wieder ein Psychologe in einer Nachmittagstalkrunde »aus aktuellem Anlass« zum Thema Kindesmisshandlung zu einer Stellungnahme genötigt worden war, der alte Reitlbauer habe nie verkraftet, dass der Flori so gar nicht nach ihm geraten sei und das den Buben ordentlich spüren lassen, vor allem ganz zum Schluss, nicht schön sei das gewesen. Die beiden Schwestern des vermeintlichen Opfers dementierten umgehend, der Vater sei außerordentlich liebevoll gewesen, von Misshandlung keine Spur, und überhaupt, nach so vielen Jahren die Ehe ihrer armen Eltern anzupatzen, sei schon gar keine Art.
Der junge Reitlbauer, hieß es, wenn wieder einmal flächendeckend und crossmedial vor der Veröffentlichung von Kinderfotos im Internet gewarnt wurde, der sei schon immer ein stilles Wasser gewesen, ein auffällig unauffälliger Einzelgänger, und dass der nie eine Frau mit nach Hause gebracht hatte in all den Jahren, die er ganz allein in dem Riesenkasten verbracht hatte, das gebe einem schon zu denken. Auch seien die Vorhänge immer zugezogen gewesen, und dass er einen Fotoapparat besessen habe, sei gesichert. Hier meldeten sich die Schwestern nicht zu Wort, der Bruder schien in der Tat ein wunder Punkt in der Familienhistorie zu sein, jedoch wies der örtliche Polizeichef die Anfragen besorgter Nachbarn zurück, man ermittle derzeit »in eine vollkommen andere Richtung«.
Die Zigeuner hieß es, der Hendlbrater, der ein paar Jahre lang jeden Herbst mit Kind, Kegel und seinem Imbissmobil im Ort Station gemacht hatte, für so jemanden sei ein leer stehendes Haus ja nachgerade eine Einladung.
Gammler, warfen ein paar hochbetagte Männer ein, unbeirrbar trotz der demonstrativ verdrehten Augen ihrer Enkel. Belgien fand häufige Erwähnung.
Der Holocaust wurde ins Spiel gebracht, Nazis, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs beinhart die Endlösung weiter vorantreiben wollten, das heißt, nicht die Endlösung, sondern die medizinischen Experimente, die die Rassenforschung revolutionieren sollte. In der Tat schienen