Die Frau mit dem zweiten Gesicht. Marie Louise Fischer

Die Frau mit dem zweiten Gesicht - Marie Louise Fischer


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Sie hätte ihn an sich nicht sonderlich interessiert, denn dergleichen Zwischenfälle sind in jeder Großstadt gang und gäbe. Aber daß es eine junge Frau war, die das Verbrechen gemeldet hatte, ließ ihn aufhorchen. Zudem war er weder müde noch angetrunken, und der Tatort lag nur wenige Minuten entfernt. Kurzentschlossen bog er am Platz ,Münchener Freiheit‘ nach rechts ab und fuhr mit erhöhter Geschwindigkeit – denn die glaubte er sich bei der gegebenen Situation und angesichts seines Presseausweises erlauben zu können – zu der angegebenen Adresse.

      Als er in der Häberlgasse eintraf, war der grüne Einsatzwagen der Polizei gerade dabei zurückzusetzen, während das Sanitätsauto mit laufendem Motor, rotierendem Blaulicht und leuchtenden Blinkern seitwärts stand.

      Paul Sanner parkte seinen klapprigen VW schräg auf dem Bürgersteig, stieg aus und rannte los, ohne sich die Zeit zu nehmen, den Zündschlüssel abzuziehen. So gelang es ihm, sich zwischen den beiden Fahrzeugen in die Sackgasse zu drängen, während der Polizeibeamte die junge Frau noch vernahm.

      Der Anblick, den sie ihm im Licht der Scheinwerfer bot, verschlug ihm, was selten vorkam, für Sekunden die Sprache. Das erste, was ihm an ihr auffiel, war ihr hellblondes, mehr als schulterlanges Haar, das zerzaust und zerwühlt wirkte, als wäre sie eben erst aus dem Bett gestiegen und hätte sich nicht die Mühe genommen, sich zu frisieren. Ihr Gesicht mit der sehr glatten, sehr weißen Haut wirkte wie eine Maske aus Porzellan, von der sich der volle, ungeschminkte und dennoch sehr rote Mund scharf abzeichnete. Daß ihre Hände und die lange Hose blutverschmiert waren, ließ sich – und war – damit zu erklären, daß sie mit dem Verwundeten in Berührung gekommen war. Aber daß sie, obwohl es eine kühle Oktobernacht war, keine Strümpfe trug, sondern die nackten Füße in Turnschuhe mit achtlos gebundenen Senkeln gesteckt hatte, war schon sehr viel sonderbarer. Das Oberteil, das unter ihrem graugrünen Parka hervorlugte, sah nicht wie eine Bluse, sondern wie ein Nachthemd aus. Sie hätte für eine Pennerin gehalten werden können, aber etwas an ihrer Erscheinung – Paul Sanner konnte es nicht auf Anhieb definieren – verriet gute Herkunft und bürgerlichen Lebensstil.

      Jetzt schien sie seinen entgeisterten, ungehemmt neugierigen Blick zu spüren und zog, ohne ihn zu erwidern, den Reißverschluß ihres Parkas mit einem Ruck hoch bis zum Hals.

      „Fräulein Forester“, sagte der Polizeibeamte, „Sie kennen also den Mann?“

      Ja.“ Ihre Stimme klang fest, wenn auch ein wenig heiser.

      Paul Sanner trat nahe heran, um sich keine Einzelheit der Vernehmung entgehen zu lassen.

      Der Polizist erkannte ihn. „Ah, Sie wieder mal, Sanner! Immer mit der Nase voraus, wie?“

      Der Journalist grinste. „Reiner Zufall, Herr Wachtmeister.“

      Zwei weißgekleidete Sanitäter und ein Arzt waren an ihnen vorbeigeeilt, damit sie sich um den Verletzten bemühen konnten.

      „Name! Adresse!“ drängte der Polizist. „Lassen Sie sich doch, bitte, nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“

      „Er heißt Günther Grabowsky und wohnt auf der Leopoldstraße. Die Hausnummer weiß ich nicht. Unten im Haus ist ein Modegeschäft. ,Lilos Boutique‘ heißt es.“

      Der Polizist machte sich Notizen. „Sie sind also mit diesem Grabowsky befreundet?“

      „Nein oder doch.“

      „Was denn nun?“

      „Er ist mein Bruder. Mein Stiefbruder.“

      „Sie sind also mit Ihrem Stiefbruder heute abend ausgegangen?“

      Über die Torheit dieser Frage konnte Paul Sanner sich nur wundern. Aber er äußerte sich nicht, denn er wußte aus Erfahrung, daß es klüger war, sich nicht einzumischen, wenn die Polizei das Sagen hatte.

      „Nein!“ erklärte Marie Forester mit Entschiedenheit.

      „Warum geben Sie es nicht zu? Es wäre doch nichts dabei.“

      „Das weiß ich. Ich bin auch hin und wieder mit ihm ausgewesen, auch in einem von diesen Lokalen hier. Aber heute abend nicht.“

      „Sie wollen behaupten, zu Hause gewesen zu sein?“

      „Ja.“

      „Und wie wollen Sie dann von dem Unfall erfahren haben? Wer hat Sie angerufen?“

      „Niemand. Ich habe es auch gar nicht gewußt.“

      „Dann war es reiner Zufall, daß Sie den Verwundeten gefunden haben?“

      „Ja!“ behauptete sie mit Nachdruck, wobei sie den Kopf in den Nacken warf.

      Die Sanitäter trugen Günther Grabowsky an ihnen vorbei. Paul Sanner konnte in dem aschfahlen Gesicht keine Ähnlichkeit mit der jungen Frau entdecken.

      Mit einer überraschenden Geste zupfte Marie Forester den Arzt, der der Trage folgte, am Ärmel seines Kittels. „Kann ich mitfahren?“ fragte sie. „Ich bin seine Schwester.“

      „Mit Ihnen bin ich noch nicht fertig“, wandte der Wachtmeister ein.

      „Tut mir leid“, sagte der Arzt achselzuckend, „Sie sehen, es geht nicht.“

      „Ich kann Sie bringen“, erbot sich Paul Sanner.

      Jetzt, zum erstenmal, sah sie ihn an. Ihre blaugrauen Augen wirkten verschleiert. „Danke“, sagte sie kurz. Dann wandte sie sich dem Polizeibeamten zu. „Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wissen wollen. Ich konnte nicht schlafen, und da habe ich mich entschlossen, noch ein bißchen spazierenzugehen.“

      „Durch das nächtliche Schwabing?“

      „Warum denn nicht? Man kann hier so gut wie anderswo laufen.“

      „Und ganz zufällig sind Sie in diese Sackgasse hineingestolpert?“ Er sah sich um, als würde er erst gerade jetzt die Umgebung wahrnehmen. „Die ist ja eigentlich mehr ein Hinterhof.“

      „Gestolpert bin ich nicht“, widersprach Marie Forester.

      „Also, ich muß Ihnen schon sagen, Ihre Erklärung überzeugt mich nicht“, sagte der Wachtmeister.

      „Tut mir leid“, gab sie zurück.

      „Sie sagen besser die Wahrheit. Wir bekommen sie bestimmt heraus.“

      Marie Forester schwieg.

      „So kommen Sie jedenfalls nicht davon. Sie melden sich morgen früh um neun Uhr auf der Polizeiinspektion in der Maria-Josepha-Straße drei.“

      „Um neun Uhr muß ich im Institut sein.“

      „Dann kommen Sie eben um acht. Bis dahin werden Sie sich hoffentlich überlegt haben, daß es besser ist, mit der vollen Wahrheit herauszurücken.“ Der Wachtmeister steckte Notizbuch und Kugelschreiber ein und wandte sich zum Gehen.

      „Wohin hat man den Grabowsky gebracht?“ fragte Paul Sanner rasch.

      „Krankenhaus ,Rechts der Isar‘“, antwortete der Polizist barsch.

      „Danke für die Auskunft!“ rief der Journalist ihm munter nach.

      Kurz darauf hörten sie das Polizeiauto abfahren.

      Paul Sanner lächelte dem sonderbaren Mädchen ermutigend zu. „So, jetzt bringe ich Sie in die Klinik, Fräulein Forester!“

      Sie zögerte und sagte dann überraschend: „Danke. Das wird nicht mehr nötig sein.“

      „Aber wieso denn nicht?“

      Sie schauderte. Jetzt kann ich ihm doch nicht mehr helfen, nicht wahr?“

      „Aber Sie werden doch wissen wollen …“ Paul Sanner brach ab. Er hatte sagen wollen: ,Ob er überlebt oder nicht‘, war sich aber während des Sprechens klargeworden, daß diese Formulierung allzu brutal gewesen wäre.

      „Ich verstehe schon“, erklärte Marie Forester.

      „Es interessiert


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