Die Frau mit dem zweiten Gesicht. Marie Louise Fischer

Die Frau mit dem zweiten Gesicht - Marie Louise Fischer


Скачать книгу
Mikrophon. „Diese Zwischenbemerkung können Sie weglassen!“ sagte er in amtlichem Ton. Dann wandte er sich wieder Marie zu: „Sie hatten es plötzlich so eilig, aus dem Haus zu kommen, daß Sie sich nicht einmal die Zeit nahmen, sich ordentlich anzukleiden?“

      Sie blickte ihm fest in die Augen. „Stimmt. Mich überfiel eine Art … ich weiß nicht, wie ich das nennen soll … eine Art Budenangst. Ich hatte das Gefühl, die Decke würde mir auf den Kopf fallen. So ähnlich. Deshalb streifte ich mir nur eine lange Hose über mein Nachthemd, Turnschuhe über die Füße und zog meinen Parka an.“

      „Finden Sie das nicht selber, jetzt im nachhinein, einigermaßen sonderbar?“

      „Nein, wieso denn? Ich wußte doch, daß ich um diese Zeit niemandem mehr begegnen würde.“ Sie machte eine kleine Pause. „Natürlich nahm ich meine Schlüssel und meine Taschenlampe mit.“

      „Wieso ist das natürlich? Nachts in der Stadt eine Taschenlampe dabeizuhaben, meine ich.“

      „Für mich schon. Ich wohne in einem Hinterhaus, und der Hof ist nicht beleuchtet. Außerdem“, fügte sie trotzig hinzu, „kann so eine schwere Lampe auch eine ganz gute Waffe sein – für den Fall, daß mich jemand anpöbeln wollte.“

      „So ausgerüstet, rannten Sie also geradewegs nach Alt-Schwabing hinüber. Wieso das?“

      „Auf den Weg habe ich gar nicht geachtet.“

      Hauptwachtmeister Werner schlug den Ordner wieder auf. „Der Anruf des Wirtes erreichte den Notruf Punkt zwanzig nach eins. Wenn Sie um fünf nach eins aufgestanden sind, müssen Sie ja einen Affenzahn draufgehabt haben.“

      Marie dachte nach. „Wahrscheinlich habe ich mich in diesem Punkt geirrt. Ich gebe zu, was die Uhrzeit betrifft, bin ich mir jetzt nicht mehr sicher. Wahrscheinlich war es vor und nicht nach eins, als ich aufgestanden bin.“

      „Eben haben Sie noch mit Bestimmtheit behauptet …“

      Sie fiel ihm ins Wort: „Ja, da habe ich es auch noch geglaubt. Aber wenn Sie sagen, der Notruf kam schon um zwanzig nach – das muß ja registriert worden sein muß ich mich eben vertan haben. Ich habe ja auch nicht sofort Alarm geschlagen, sondern mich erst über meinen verletzten Bruder gebeugt und versucht, ihm zu helfen. In so kurzer Zeit kann das einfach nicht alles passiert sein.“

      „Jetzt erzählen Sie mir doch mal genau, wie Sie ihn gefunden haben.“

      „Es fiel mir auf, daß das Tor zu der Sackgasse offenstand. Es ist sonst abends immer geschlossen. Auch die Laterne im hintersten Winkel brannte nicht, ja, vielleicht ist mir das sogar zuerst aufgefallen. Gewöhnlich kann man sie von der Straße aus sehen.“

      „Sie scheinen sich erstaunlich gut dort auszukennen.“

      „Erstaunlich würde ich nicht sagen. Ich gehe oft in Schwabing spazieren, dort, wo es noch einen gewissen dörflichen Charakter hat. Ich finde es malerisch und interessant. Außerdem übe ich mich darin, mir Einzelheiten einzuprägen.“

      „Klingt überaus plausibel!“ bemerkte der Hauptwachtmeister nicht ohne Ironie. „Wenn Sie mir jetzt noch erklären können, was Sie zum Teufel bewogen hat, in diese doch wahrscheinlich stockdunkle Sackgasse einzudringen.“

      „So dunkel war es nicht. Es fiel ja Licht aus den rückwärtigen Fenstern, und ich hatte meine Taschenlampe.“

      „Das erklärt gar nichts.“

      Marie schwieg.

      „Ihre Darstellung des Hergangs entbehrt jeder Logik. Soll ich Ihnen jetzt mal erzählen, was sich wirklich abgespielt hat?“

      „Ich habe es Ihnen ja gerade geschildert.“

      „Nein, das haben Sie nicht. Günther Grabowsky ist von jemandem niedergestochen worden, sei es nun Mann oder Frau, wahrscheinlich können wir aber davon ausgehen, daß es sich um einen Mann handelt, der ihm persönlich bekannt war. Nach der Tat hat er dann das große Nervenflattern bekommen und Sie angerufen, worauf Sie losgestürzt sind, um Ihren Stiefbruder zu suchen.“

      „Nein!“

      Der Hauptwachtmeister tat ihren Widerspruch mit einer Handbewegung ab. „Natürlich wäre es richtiger gewesen, wenn Sie den Notruf gewählt hätten. Dann wäre Ihr Bruder zwanzig Minuten früher gefunden worden. Aber das haben Sie nicht gewagt, weil Sie fürchteten, dann den Namen des Informanten preisgeben zu müssen.“

      „Nein!“

      „Ich gebe zu, daß es nicht unbedingt der Täter gewesen sein muß, der Sie alarmiert hat. Es kann auch ein Zeuge gewesen sein. Aber auch durch dessen Aussage hätten wir den Täter eruiert.“

      „Sie sollten mir keine Unlogik vorwerfen, Herr Hauptwachtmeister“, sagte Marie und warf den Kopf zurück. „Unterstellen wir mal, ich wäre angerufen worden – was ich allerdings nach wie vor mit Nachdruck bestreite –, dann hätte der Täter oder Zeuge nicht nur meinen Bruder kennen, sondern auch meine Telefonnummer haben müssen. Das wäre doch äußerst unwahrscheinlich.“

      „Kann ich nicht finden.“

      „Außerdem hätte ich sehr wohl den Notarzt alarmieren können. Nach Ihrer Darstellung hätte ich ja genau angeben können, wo der Verletzte zu finden war. Das hätte doch genügt. Meinen Namen hätte ich ja gar nicht zu nennen brauchen. Oder ich hätte einen falschen angeben können. Warum denn nicht?“

      „Das fällt Ihnen erst jetzt ein. In der Nacht haben Sie nicht daran gedacht. Sie waren äußerst bestürzt, in echte Panik geraten.“

      „Sie machen sich ein völlig falsches Bild von mir, Herr Hauptwachtmeister. Ich würde niemals wie eine kopflose Henne reagieren.“

      „Ich glaube Ihnen kein. Wort.“

      „Das werden Sie schon noch. Spätestens, wenn Sie mit meinem Bruder gesprochen haben.“

      „Falls es dazu kommt.“

      „Ich finde es nicht anständig, daß Sie mir dauernd Angst einjagen wollen. Ich habe heute früh in der Klinik angerufen. Er hat die Nacht überlebt und ist so gut wie außer Gefahr.“

      „Da bin ich gar nicht so sicher.“

      „Aber ich!“

      Ohne Marie anzusehen, zündete der Polizeibeamte sich eine neue Zigarette an. „Wechseln wir mal das Thema, ja? Sie kennen die Kreise, in denen er verkehrt.“

      „Nicht sehr gut.“

      „Wirklich nicht? Sie leben beide in derselben Stadt, fern von zu Hause, sind beide jung …“

      Marie fiel ihm ins Wort. „Günther ist fünf Jahre älter als ich.“

      „Was macht das schon für einen Unterschied?“

      „Einen gewaltigen. Außerdem haben wir nicht die gleichen Interessen.“

      „Sie wissen also nicht, ob er mit Drogen zu tun hat?“

      „Drogen?“ wiederholte Marie verblüfft.

      „Noch nie von so etwas gehört, wie?“

      „Gehört schon und auch gelesen. Aber ich verstehe nicht, wie Sie darauf kommen, daß ausgerechnet mein Bruder …

      Er ließ sie nicht aussprechen. „Weil es gerade in der Drogenszene häufig zu Schlägereien und Messerstechereien kommt, zum Beispiel, wenn ein Dealer einem Kunden den Stoff verweigert. Etwas Derartiges könnte hinter der Tat stecken. Der verschwiegene Winkel, in den sich die Streitenden zurückgezogen haben, spricht dafür.“

      „Hören Sie, Herr Hauptwachtmeister! Ich kann zwar nicht beschwören, daß Günther nicht schon mal Hasch oder Marihuana genommen hat, obwohl ich das niemals mitgekriegt habe – aber ein Dealer ist er mit Gewißheit nicht!“

      „Daß er sich Rauschgift besorgen wollte, halten Sie also für möglich?“

      „Jetzt versuchen Sie, mir das


Скачать книгу