Die Frau mit dem zweiten Gesicht. Marie Louise Fischer

Die Frau mit dem zweiten Gesicht - Marie Louise Fischer


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Tag in der Zeitung hätte lesen müssen, sie wäre umgebracht worden? Besser doch so.“

      Sie steckte ihm das nächste Stück, das sie bis jetzt in der Hand gehalten hatte, in den Mund. „Schlimm genug. Du hättest dabei draufgehen können.“

      Als er es gegessen hatte, sagte er: „Ich war mir übrigens keiner Gefahr bewußt. Der Kerl war viel schmächtiger als ich. Wie konnte ich denn ahnen, daß er ein Messer ziehen würde? Ich Trottel habe mir eingebildet, ihn mit ein paar klugen Onkel-Doktor-Floskeln beruhigen zu können.“

      „Mach dir nichts draus! Du bist schließlich kein Irrenarzt.“

      Er sah dankbar zu ihr auf. „Ich habe mich tatsächlich wegen meines Versagens geschämt.“

      Während sie so an seinem Krankenbett saß und ihn fütterte, fühlte sie die alte Zuneigung aus Kindertagen in sich aufwallen. „Du hast mehr getan, als man von dir erwarten konnte.“

      „Nett von dir, das zu sagen.“

      „Das sollte kein Kompliment sein, sondern meine ehrliche Meinung. War die Polizei nicht auch dieser Ansicht?“

      „Die wollten mir nicht abnehmen, daß ich die Leute vorher überhaupt nicht gekannt habe.“

      „Ja, ich weiß. Meine Schuld.“ Während des Gesprächs teilte Marie weiter Mandarinenschnitze aus, ja, sie schälte auch noch eine zweite.

      „Wie, um Himmels willen, bist du dort hingekommen?“ wollte Günther wissen.

      „Ich bin gelaufen.“

      „Aber wieso?“

      Marie warf einen Blick zum anderen Bett hinüber. „Kannst du dir das nicht denken?“

      Günthers Gesicht verfinsterte sich. „Immer noch? Ich dachte, das wäre vorbei.“

      „Ich kann nichts dafür!“ sagte sie heftig. „Und diesmal hat es dir ja wahrscheinlich das Leben gerettet. Also mach mir bitte keinen Vorwurf!“

      „Das wollte ich nicht. Tut mir leid, wenn es so geklungen hat. Tatsächlich bin ich …“ Er suchte nach dem passenden Ausdruck. „… entsetzt.“

      „Ich muß damit leben, nicht du.“

      „Aber Vater meinte doch, es würde nach der Pubertät besser werden.“

      „Das habe ich auch gehofft. Es war das erste Mal, seit ich …“ Sie unterbrach sich. „Du hast der Polizei gegenüber doch hoffentlich nichts durchblicken lassen?“

      „Natürlich nicht. Glaubst du, ich will riskieren, für verrückt erklärt zu werden?“

      „Konntest du eine Beschreibung des Täters geben?“

      „Eine ziemlich gute sogar. Aber sie wollten mir nicht glauben. Zum Glück hat die Bedienung meine Version bestätigt. Daß ich an einem anderen Tisch gesessen habe, daß dieser Kerl und sein Mädchen sich gestritten haben und ich erst nach ihnen gegangen bin. Trotzdem sind sie skeptisch geblieben. Nach dem Motto: alles abgekartetes Spiel und so. Der Beamte, der mich verhört hat …“

      „War es Hauptwachtmeister Werner?“ fiel sie ihm ins Wort.

      „Ja, ich glaube schon. Ich habe nicht auf den Namen geachtet. Jedenfalls ist er überzeugt, daß ich den Täter kenne und daß seine Begleiterin dich nachträglich angerufen hat.“

      „Rechnest du damit, daß der Bursche gefaßt wird?“

      „Wohl kaum. Falls er nicht in der Verbrecherkartei steht. Die soll ich mir, wenn ich hier raus bin, noch durchsehen. Oder ich müßte ihm zufällig begegnen,“

      „Würdest du die Polizei verständigen? Ich meine, wenn du ihn irgendwo sehen würdest?“

      Er dachte nach. „Ich glaube nicht. Wahrscheinlich handelt es sich um ein armes Schwein. Nicht anzunehmen, daß er am laufenden Band Leute niedermetzelt.“

      „Die Polizei wird dich sicher noch eine Weile im Auge behalten.“

      „Falls sie nichts Besseres zu tun hat. Aber was soll’s?! Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, und ich habe auch nichts zu verbergen.“ Während des Gesprächs hatte er rote Flecken auf den Wangen bekommen.

      „Du, ich glaube, ich muß jetzt gehen“, sagte sie, sammelte die Schalen ein, stand auf und sah sich nach einem Papierkorb um.

      „Schon?“ fragte er enttäuscht.

      Sie hatte einen Plastikeimer gefunden und warf die Mandarinenschalen hinein. Dann kam sie zu ihm zurück und beugte sich über ihn. „Das viele Reden strengt dich zu sehr an.“ Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. „Du hast Fieber.“

      „Nur ein bißchen Temperatur. Die kommt nicht vom Reden, sondern von meiner Wunde.“

      „Trotzdem. Ich werde dich bald wieder besuchen. Meinst du, daß ich mich an die Besuchszeiten halten muß?“

      „Überhaupt nicht. Ich liege schließlich zweiter Klasse. Lilo kann auch erst nach Ladenschluß kommen.“

      „Wie geht es ihr?“ fragte Marie ohne sonderliches Interesse. Sie wußte, daß sie wahrscheinlich ungerecht war, aber sie konnte die Frau, mit der ihr Bruder zusammenlebte, nicht leiden.

      Er ahnte nichts von ihren Gefühlen. „Der hat das Ganze natürlich einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Erst mal, weil ich in der Nacht nicht nach Hause gekommen bin …“

      „Ich hätte sie anrufen sollen“, fiel ihm Marie ins Wort, „aber daran habe ich überhaupt nicht gedacht.“

      „Die Vorwürfe kriegst nicht du, die werde ich einstecken müssen. Sobald es mir wieder bessergeht. Vorläufig ist sie noch ganz Sanftmut und Besorgnis. Aber das dicke Ende kommt nach.“

      „Hast du ihr …“ Marie zögerte weiterzusprechen.

      Er erriet ihre Gedanken: „… von deinem Eingreifen erzählt? Nein. Wie hätte ich ihr das denn erklären können? Sie ist eine äußerst nüchterne, realistisch denkende Frau.“

      Sie sahen einander tief in die Augen.

      Sie dachte: Wie kann man nur eine so kalte, materialistische Person lieben? Außerdem ist sie ein paar Jahre älter als er. Schade um ihn!

      Und er: Was ist sie für ein verrücktes junges Ding! Trotz allem, irgendwie hab’ ich sie lieb.

      Sie drückte einen zarten Kuß auf seine heiße Stirn. „Ich habe noch eine Frage“, sagte sie, als sie sich wieder aufgerichtet hatte.

      „Ja?“

      „Hast du an mich gedacht? Als es passierte, meine ich.“

      „Nein. Nicht an dich und auch nicht an meine Mutter, oder daß sich mein verflossenes Leben vor mir abgespult hätte. Nichts in dieser Richtung. Ich habe nur den Schmerz gespürt. Nicht einmal, daß es mit mir aus sein könnte, habe ich gedacht. Und dann habe ich ja auch sehr schnell das Bewußtsein verloren.“

      „Du sollst doch nicht so viel reden, Günther.“

      „Du bringst mich dazu.“

      „Das wollte ich nicht. Ein einfaches ,Ja‘ oder ,Nein‘ hätte mir genügt.“ Sie lächelte ihm zu. „Dann bis bald und gute Besserung!“ Sie wandte sich zum Gehen.

      „Marie!“ rief er ihr nach.

      „Noch einen Wunsch?“

      „Wie kommst du darauf, daß ich an dich gedacht haben könnte?“

      „Liegt doch auf der Hand. Es hätte Gedankenübertragung sein können, nicht wahr?“

      „Das wäre doch auch keine Erklärung.“

      „Aber immerhin ein Hinweis. Besser als gar nichts jedenfalls.“

      Als sie zur Tür ging, sah der andere Patient von seinem Magazin hoch. Sie nickte ihm zu und verließ rasch


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