Die Frau mit dem zweiten Gesicht. Marie Louise Fischer

Die Frau mit dem zweiten Gesicht - Marie Louise Fischer


Скачать книгу
hole Sie ab.“

      „Und wann?“

      „Gegen acht.“

      „Sie müssen schon pünktlich sein, denn ich werde auf der Straße auf Sie warten. Ich glaube, ich habe es Ihnen schon mal erklärt: nach sieben Uhr wird das Tor verschlossen.“

      „Kann man denn nicht bei Ihnen klingeln?“ fragte er erstaunt.

      „Nicht von der Straße aus, nur von der Haustür.“

      „Mein Gott, wie umständlich! Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, mir macht das nichts aus. Aber wie können Sie dann überhaupt abends Freunde empfangen?“

      „Das tue ich auch nicht“, bekannte sie.

      „Nie?“

      Er fragte das so verblüfft, daß sie es für richtiger hielt, ihr Geständnis abzumildern.

      „Wer mich abends erreichen will, ruft mich vorher an!“ behauptete sie. „Und ich glaube, so sollten wir es auch morgen machen. Telefonieren Sie, wenn Sie genau wissen, wann Sie dasein werden, und ich komme hinunter.“

      Sie hatten den Platz inzwischen erreicht, und Paul Sanner hatte gebremst, war aber, da er keinen Parkplatz fand, auf der Fahrbahn stehengeblieben. Noch während sie sprach, hatte sie schon die Tür geöffnet und ihr Köfferchen genommen, das sie neben ihren Beinen abgestellt hatte. Jetzt sprang sie heraus.

      „Bis morgen abend!“ rief er hinter ihr her, war aber nicht sicher, ob sie ihn noch gehört hatte. Er hätte ihr noch nachsehen mögen, wie sie auf ihren langen Beinen mit großen Schritten davonging. Aber um den Verkehr nicht zu behindern, riß er sich von ihrem Anblick los und fuhr weiter.

      Ein seltsames Mädchen, dachte er.

      Das ,Privatinstitut Geissler‘ war in einem schönen alten Haus mit prächtig verziertem Mauerwerk untergebracht, das einst eine private Villa gewesen war.

      Marie eilte, nachdem der Pförtner ihr geöffnet hatte, durch die große, etwas düstere Halle, riß sich in der Garderobe die Jacke herunter, hing sie in ihren Spind und zog sich einen weißen Kittel über. Die summende Stille, die sie empfing, verriet ihr, daß der Unterricht schon begonnen hatte. Obwohl sie sich nicht durch eigene Schuld verspätet hatte, war es ihr doch sehr peinlich, zumal sie die erste Stunde, anatomisches Zeichnen, bei Professor Reisinger hatte, einer wirklichen Kapazität, von den Schülern bewundert, umschwärmt und auch gefürchtet.

      Bernhard Reisinger hatte sich schon in jungen Jahren, er war erst zweiunddreißig, einen Namen als Kunstmaler gemacht, galt nicht nur als genial, sondern auch als Gesellschaftslöwe, so daß er über Mangel an Aufträgen, seien sie staatlich, städtisch oder privat, nicht zu klagen brauchte. Es hieß, daß er am Institut nur aus Freundschaft zu dessen Besitzerin und Direktorin Frau Henriette Geissler unterrichtete, die ihn am Beginn seiner Karriere nachhaltig gefördert hatte. Ihm verdankte die Kunstschule ihre Attraktivität.

      Marie flog die breite Treppe hinauf und hoffte inständig, daß ihre Verspätung nicht auffallen würde. Wenn Professor Reisinger angeblich auch nur aus Gefälligkeit unterrichtete, pflegte er sich doch sehr auf die Arbeiten der einzelnen Schüler zu konzentrieren. Lautlos öffnete sie die Tür zu dem hellen hohen Raum, nur einen Spalt breit, durch den sie sich hineinzwängte, schloß sie genauso geräuschlos wieder hinter sich.

      Aber Professor Reisinger, der sich über das Zeichenbrett Gregor Krykowkys gebeugt hatte, richtete sich sofort auf und blickte ihr entgegen. „Sie sind spät dran, Marie!“ stellte er fest. „Gibt es jetzt etwas in Ihrem Leben, das Ihnen wichtiger ist als die Kunst? Oder haben Sie einfach verschlafen?“

      Die anderen Schülerinnen kicherten über diesen Kommentar, aber Marie ärgerte sich. Dennoch hielt sie dem Blick seiner grünen, goldgesprenkelten Augen stand. „Verzeihen Sie, Herr Professor!“

      „Bei mir brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen, Marie! Sie lernen ja auch nicht mir zuliebe.“

      „Nein, bestimmt nicht!“ gab Marie zurück. Im selben Augenblick wurde ihr bewußt, daß diese Erwiderung kindisch gewirkt haben mußte.

      „Dann also los! An die Arbeit! Verlieren Sie nicht noch mehr Zeit!“

      Marie öffnete ihr schwarzes Köfferchen, holte ein rotes Seidentuch heraus, mit dem sie ihr langes Haar im Nacken zusammenband, und spannte ein grobkörniges Blatt auf ihren Zeichentisch. Dann fixierte sie das Modell, das im hellen Licht, das aus den großen Fenstern vom Garten her fiel, nackt auf einem Podest saß. Es war eine alte Frau mit Hängebrüsten, einem ausgeleierten Bauch, die entspannt, mit übergeschlagenen Beinen auf einem Schemel hockte. Auch das noch! dachte Marie. Ich werde nie begreifen, warum man so etwas skizzieren soll.

      Aber natürlich wußte sie, daß es sein mußte. Sonst hätte Professor Reisinger, der selbst längst über die gegenständliche Malerei hinaus war, es nicht von seinen Schülern verlangt. Er war genau darüber orientiert, was für die Aufnahme in die Staatliche Kunstakademie von den Anwärtern verlangt wurde. Sie nahm einen Kohlestift und machte sich an die Arbeit.

      „Hübsch, nicht?“ flüsterte Anita Lehnertz, ihre Nachbarin zur Linken, ihr zu. „Wenn ich mir vorstelle, daß ich später auch mal so aussehen werde!“ Anita war bildhübsch mit ihrer wohlproportionierten Figur, blondgelocktem Haar, das noch durch geschickt verteilte Strähnchen und himmelblaue Augen aufgehellt wurde.

      „Du nicht!“ gab Marie zurück.

      „Wie kannst du da so sicher sein?“

      „Die hat mindestens drei Kinder gehabt und sich außerdem sträflich gehenlassen.“

      Anita, die sich ihr Studium als Fotomodell verdiente, lächelte. „Klar erkannt“, flüsterte sie.

      Professor Reisinger näherte sich ihr von hinten. „Na, kleines Plauderstündchen?“ fragte er.

      „Wir haben nur über das Modell gesprochen“, verteidigte sich Anita.

      „Gefällt Ihnen wohl nicht, Fräulein Lehnertz?“

      Anita schauderte übertrieben. „Schlechte Aussichten für die Zukunft!“

      „Das ist der Weg alles Irdischen.“ Er beugte sich über ihr Zeichenbrett. „Schon recht ordentlich.“

      Anita bedachte ihn mit einem hingebungsvollen Augenaufschlag. „Wirklich, Herr Professor?“

      „Die Knie ein bißchen markanter, wenn es möglich ist.“ Er ging weiter zu Marie.

      Sie hatte sich schon zuvor schwergetan, aber jetzt, wo er ihr auf die Finger schaute, wurde sie noch unsicherer. Ihre Hände gehorchten ihr plötzlich nicht mehr; sie wünschte, er würde wortlos weitergehen. Aber er tat es nicht. „Na, wie haben wir es denn, Marie?“ fragte er.

      „Es ist schwer.“

      „Wollen Sie mir bitte erklären, was Ihnen solche Schwierigkeiten macht?“

      „Freiwillig würde ich ein solches Objekt niemals wählen.“

      „Und deshalb schönen Sie es. Das ist falsch, Marie. Machen Sie es drastisch. Eine Karikatur wird es bei Ihnen ohnehin nicht werden.“ Er blieb weiter hinter ihr stehen.

      Sie wagte nicht zu sagen, wie sehr er sie irritierte.

      „Versuchen Sie es mal mit einem Bleistift!“ wies er sie an.

      „Oh!“ sagte sie bestürzt. „Auf dem selben Blatt?“

      „Warum nicht? Mit dem Bleistift kann man weniger mogeln, Marie, und darauf kommt es an.“

      Sie gehorchte, suchte sich einen weichen Bleistift aus, verlängerte die Brüste, so daß sie, wie beim Vorbild, fast die Knie berührten.

      „Schon besser, Marie“, lobte er und ging langsam weiter.

      Sie atmete auf. Endlich gehorchte ihre Hand wieder ihrem Auge und ihrem Kopf.

      Als er eine halbe Stunde später noch einmal


Скачать книгу