Die Frau mit dem zweiten Gesicht. Marie Louise Fischer

Die Frau mit dem zweiten Gesicht - Marie Louise Fischer


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      „Es gibt nicht nur schöne Dinge im Leben, Marie.“

      „Das weiß ich, Herr Professor. Aber ich meine, man sollte auch das Häßliche liebevoll betrachten oder Wenigstens mit Mitgefühl.“

      „Später wird Ihnen das unbenommen bleiben. Aber als Anfängerin müssen Sie erst einmal lernen, die Realität so zu erfassen, wie sie ist.“

      „Ja, Herr Professor“, sagte sie und senkte den Blick.

      Er blieb noch eine Weile bei ihr stehen, und sie mußte wenigstens so tun, als ob sie weiterarbeitete, und ihre zitternde Hand zum Gehorsam zu zwingen.

      Zwei Stunden später verließ Professor Reisinger mit einem fröhlichen „Bis nächsten Freitag, meine Damen und Herren!“ das Klassenzimmer.

      Wie auf ein Stichwort hin begannen die Zurückgebliebenen gleichzeitig zu reden. Das Modell dehnte und reckte sich und zog sich ungeniert an. Gregor Krykowsky, von seinen Kameraden und auch von Professor Reisinger als der Begabteste, Fleißigste und Ehrgeizigste anerkannt, versuchte noch einige Bewegungsskizzen zu machen. Die anderen verstauten ihre Zeichnung in großen Arbeitsmappen.

      „Wie ich dieses anatomische Zeichnen hasse!“ stieß Marie aus tiefstem Herzen aus.

      „Aber er hat dich doch gelobt!“ sagte Anita Lehnertz. „Laß mal sehen!“

      Marie hielt ihr die noch offene Mappe hin.

      „Na, so doll kann ich das aber nicht finden“, sagte sie abwertend.

      „Habe ich auch nie behauptet.“

      „Nach Reisis Worten hatte ich ein Meisterwerk erwartet.“

      Susanne Brüning, Anitas ,häßliche Freundin‘, trat zu den beiden und zündete sich eine Zigarette an. „Das kommt nur, weil er ein Auge auf sie geworfen hat.“

      „Komm mir nicht wieder mit diesem Quatsch!“ konterte Marie wütend und verstaute ihre Mappe unter dem Tisch.

      Susanne kniff ihre kleinen, sehr scharf blickenden Augen zusammen und musterte sie spöttisch. „Was regst du dich auf? Das kann dich doch nur ehren, und außerdem erleichtert es dir das Leben.“

      „Nur leider stimmt es nicht“, sagte Anita nüchtern.

      „Aber ja doch! Warum sonst sein ewiges ,Marie hin, Marie her‘? Mich spricht er mit ,Fräulein Brüning‘ an und dich als ,Fräulein Lehnertz‘.“

      „Doch nur, weil Marie noch so ein Küken ist.“

      „Anita hat recht“, sagte Marie entschieden, „er macht sich nicht das geringste aus mir. Er nimmt mich nicht einmal für voll. Laßt uns doch in den Garten gehen! Ein bißchen frische Luft würde uns allen bestimmt guttun.“

      Dieser Vorschlag wurde angenommen. Nachdem Anita ihre Zigarette in einem leeren Farbtöpfchen ausgedrückt hatte, liefen sie nebeneinander die breite Treppe hinunter. Im Garten setzten sie sich auf ihren Lieblingsplatz dicht an der rückwärtigen Hausmauer, die von der Herbstsonne noch angenehm erwärmt wurde.

      Die Unterhaltung verlief wie gewöhnlich. Susanne, die abends als Bedienung arbeitete, und Anita plauderten über ihre Erfahrungen, und Marie beschränkte sich darauf, zuzuhören und hin und wieder eine Zwischenfrage zu stellen. Heute, zum ersten Mal, kam ihr das sonderbar vor. Natürlich konnte sie nicht erzählen, was sie in der vergangenen Nacht erlebt hatte. Sie hätte es den Freundinnen so wenig erklären können wie der Polizei. Aber warum sagte sie nicht wenigstens, daß sie einen netten jungen Mann kennengelernt und sich mit ihm verabredet hatte? Weil sie nicht annahm, daß die anderen sich dafür interessierten? Weil sie nichts von sich preisgeben wollte?

      Marie wußte es nicht. Zurückhaltung war ihr seit langem zur zweiten Natur geworden. Dabei sehnte sie sich so sehr danach, sich einmal auszusprechen.

      Am Tag darauf nahm sich Marie ein paar Stunden frei und fuhr mit ihrem roten Flitzer, den sie selten benutzte, denn sie ging lieber zu Fuß, zum ,Krankenhaus rechts der Isar‘ hinüber. Selbst mit dem Auto brauchte sie bei dem dichten Verkehr, der in der Stadt herrschte, nahezu eine halbe Stunde. Aber sie kam pünktlich zur Besuchszeit an und stellte ihren Wagen auf dem großen Parkplatz ab.

      In der Eingangshalle, die fast wie eine Großstadtstraße wirkte, gab es Geschäfte, in denen alles mögliche verkauft wurde, vor allem Obst, Süßigkeiten, Tabakwaren, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Hier flanierten Patienten in Hausschuhen und Morgenmänteln, andere saßen allein oder mit Besuchern in der benachbarten Caféteria. Die lebhafte, wenig krankenhaushafte Stimmung wirkte beruhigend auf Marie.

      Hauptwachtmeister Werner hatte ihr mitgeteilt, daß Günther Grabowsky inzwischen vernommen worden war und ihr auch seine Zimmernummer angegeben. Sie hatte für ihren Stiefbruder besonders saftige Mandarinen besorgt, die sie in einem Netz mit sich trug. Die großen Plantafeln halfen ihr, sich in dem riesigen Haus zurechtzufinden, und wenig später trat sie nach kurzem Anklopfen in das Zweibettzimmer, in dem Günther lag. Er wirkte immer noch sehr blaß, seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, außerdem war er unrasiert, aber er lächelte ihr tapfer entgegen. Sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf beide Wangen. „Sei mir nicht böse, daß ich erst heute nach dir sehe. Die Polizei hatte es mir verboten.“

      „Typisch!“

      Sie warf einen prüfenden Blick auf das andere Bett, aber der Mann, der darin lag, beachtete sie gar nicht, sondern schien in die Lektüre eines Herrenmagazins vertieft. Dennoch senkte sie die Stimme zu einem Flüstern, als sie fragte: „Was hast du ihnen erzählt?“

      „Über dich?“

      „Ja, natürlich. Sie wollten mir nicht glauben, daß ich dich zufällig gefunden habe.“

      „Kann ich mir vorstellen.“

      Marie leerte ihr Netz auf Günthers Nachttisch und verstaute es in ihrer Handtasche.

      „Mandarinen? Wunderbar!“ sagte er. Beim Lächeln entblößte er seine schiefstehenden Zähne, die ihm etwas Lausbübisches gaben, das gar nicht in seinem Charakter lag; als Junge hatte er sich mit Erfolg gegen das Tragen einer Zahnspange gewehrt. „Du darfst mir gleich eine schälen.“

      „Du kannst also schon wieder essen?“

      „Unbesorgt. Die Zeit der intravenösen Ernährung ist überstanden.“

      „Gott sei Dank!“ Sie zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. „Hast du eine Serviette?“

      „In der Schublade.“

      Sie nahm sie heraus, breitete sie über ihren grauen Flanellrock, nahm eine der Mandarinen zur Hand und begann sie zu schälen. „Was ist nun wirklich passiert?“

      „Weißt du das nicht?“

      „Nein.“

      „Aber wieso, bist du dann darauf gekommen, mich zu suchen?“

      „Ich …“ Marie stockte. „Nein, erzähl du erst! Wie konnte dir das passieren?“

      „Eigene Dummheit. Aber ich schwöre dir: Nie wieder mische ich mich in so was ein. Ich saß gemütlich in einer Wirtschaft – ich hatte bis in die Nacht hinein gearbeitet – als ein Kerl an einem Nebentisch Krach mit seiner Frau oder seiner Freundin, was auch immer, jedenfalls mit einem weiblichen Wesen anfing. Als sie das Lokal verließen, war er furchtbar aufgebracht und natürlich auch nicht mehr nüchtern. Ich zahlte und ging ihnen nach. Er watschte sie und stieß sie in diese Sackgasse hinein.“

      „Stand das Tor denn offen?“

      „Nein, aber es war auch nicht verschlossen. Er stemmte sich mit der Schulter dagegen, und es schwang auf. Die Frau schrie.“

      „Und da mußtest du den edlen Retter spielen?“ Marie hatte die Mandarine geschält, jetzt teilte sie sie und steckte ihm ein Stück zwischen die Lippen.

      Er saugte genüßlich daran und nickte.

      „Die Polizei dachte, du hättest


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