Die Frau mit dem zweiten Gesicht. Marie Louise Fischer

Die Frau mit dem zweiten Gesicht - Marie Louise Fischer


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machte sie sich auf den Weg zum Ausgang. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich eingestand, daß sie enttäuscht war.

      Es war ihr so wichtig gewesen, ihren Bruder zu besuchen, sie hatte kaum erwarten können, daß sie endlich die Erlaubnis dazu erhielt. Dabei war sie unwillkürlich und ohne richtig nachzudenken davon ausgegangen, daß er sich genau so sehr nach ihrem Erscheinen gesehnt hatte. Sie hätte wissen müssen, daß er sich ihr durchaus nicht mehr so verbunden fühlte wie sie ihm. Er hatte jetzt ja Lilo, die ihm weit mehr bedeutete und die bestimmt schon vorher, wahrscheinlich am vergangenen Abend, bei ihm gewesen war.

      Das stimmte sie traurig. Sie sagte sich, daß das dumm von ihr war. Doch diese Erkenntnis konnte nichts an ihrer Niedergeschlagenheit ändern. Er war ja nicht einmal wirklich mit ihr verwandt, blutsverwandt. Die zweite Frau ihres Vaters hatte ihn mit in die Ehe gebracht. Aber von klein auf, als sie sich sehr einsam fühlte, hatte sie ihren großen Bruder in ihm gesehen. „Von heute an ist Günther dein Bruder“, hatte der Vater ihr an dem Tag erklärt, als er Katharina, seine zweite Frau, geheiratet hatte.

      Marie erinnerte sich noch, mit welch freudigem Stolz diese Eröffnung sie erfüllt hatte. Schon vorher, als Katharina mit ihrem Sohn zu ihnen gezogen war, um ihnen das Haus zu führen, hatte sie Günther bewundert und war ihm auf Schritt und Tritt gefolgt. Und jetzt sollte er ihr Bruder sein! Es hatte sie nie gestört, daß er diese Rolle mit sehr viel Überheblichkeit gespielt hatte – er war ihr ja wirklich in jeder Beziehung überlegen –, aber er war doch auch herzlich und fürsorglich ihr gegenüber gewesen und bisweilen von verstohlener Zärtlichkeit. Geduldig hatte er ihr alles erklärt, was sie wissen wollte, und unermüdlich neue Spiele für sie erfunden. Sie hatten sehr einsam gelebt in dem großen, alten Haus weit außerhalb des Dorfes. Bayreuth, die Stadt, in der sie geboren war, lag mehr als dreißig Kilometer entfernt.

      Eine Zeitlang hatten sie sich sogar gegen die Mutter verbündet. Katharina hatte, trotz ehrlichen Bemühens, nie einen wirklichen Zugang zu ihr gefunden. Marie hatte immer gespürt, daß sie sie nicht wirklich liebhatte, sondern im Grunde ihres Herzens eifersüchtig auf sie war, vielleicht, weil sie ihrer früh verstorbenen Mutter so sehr glich, vielleicht auch, weil sie fand, daß der Vater sie zu sehr verwöhnte. Marie hatte nie viel darüber nachgedacht, sie hatte es als Tatsache hingenommen.

      Günther gegenüber war Katharina noch strenger gewesen, viel zu streng, wie es den beiden Kindern schien. Von ihrem ersten Mann bitter enttäuscht, hatte sie jeden Zug Günthers, der sie an ihn erinnerte, auszumerzen gesucht. Sie hatte ihren Sohn in einem Maße beherrschen wollen, wie es ihr bei ihrem ersten Mann nicht gelungen war und wie es ihr bei ihrem zweiten, Maries Vater, nie gelingen würde. Sie war eine harte Frau, und diese Härte trieb die Kinder zueinander.

      Dann, von einem Tag zum anderen, wie es Marie heute noch schien, hatte sich Günthers Haltung ihr gegenüber geändert. Er war ablehnend geworden, ja abweisend. Marie hatte sehr darunter gelitten. Viel später hatte sich ihre Beziehung dann wieder normalisiert. Aber mit der Vertrautheit der Kinderzeit war es vorbei gewesen, nicht mehr als ein Abglanz, der hin und wieder aufschien, war davon geblieben.

      Als Marie das Krankenhaus verlassen hatte und zum Parkplatz gehen wollte, wurde ihr bewußt, daß es leichtsinnig gewesen wäre, sich jetzt hinters Steuer zu setzen. Zu viele Gedanken wirbelten ihr gleichzeitig durch den Kopf. Sie fühlte sich außerstande, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren.

      Kurz entschlossen wendete sie sich in die andere Richtung, schritt die Planckstraße hinunter und bog, kurz vor dem mächtigen Gebäude des Bayerischen Landtages, in einen Fußweg ein, der, durch Wiesen und Bäume gesäumt, an der Isar entlangführte. Es war merklich kühler hier unten als zwischen den Häusern; der Wind blies ihr ins Gesicht und zerrte an ihrem Haar. Aber Marie machte sich nichts daraus, obwohl sie ein wenig fror. Sie empfand es als wohltuend, ihren Gedanken nachhängen und kräftig ausschreiten zu können.

      Nur wenige Spaziergänger waren hier unterwegs. Marie beachtete niemanden. Sie lief bis zum Friedensengel, der sich goldschimmernd zwischen dem herbstlichen Laub der alten Bäume vom mattblauen Himmel abhob, und kehrte erst dann wieder um.

      Noch etwas war ihr inzwischen klargeworden. Zwar hatte sie keine Dankbarkeit von Günther erwartet – das, was sie getan hatte, war für sie selbstverständlich gewesen, sie hätte nicht anders gekonnt, auch wenn sie gewollt hätte –, aber doch ein freudiges Staunen darüber, daß sie ihn gefunden und ihm dadurch das Leben gerettet hatte. Statt dessen schien es ihm geradezu peinlich zu sein. Er hatte sie behandelt, als ob sie mit einem Makel behaftet wäre. In seiner Stimme hatte sogar ein gewisser Vorwurf geklungen, als sei es ihre Schuld, daß sie so war, wie sie war. Dabei hätte er besser als jeder andere Mensch wissen müssen, daß sie nichts dafür konnte. Wenigstens hätte er Mitgefühl zeigen können. Aber nicht einmal das hatte er getan.

      „Ach was“, sagte sie zu sich selbst, „gib doch zu, daß du selber schuld bist! Du solltest längst wissen, daß niemand dich versteht oder auch nur versucht, es zu verstehen. Es war dein eigener Fehler, dir wieder einmal falsche Hoffnungen zu machen. Du mußt allein damit fertig werden. Du bist allein und wirst es bleiben.“

      4

      Marie hatte keine Lust, mit Paul Sanner auszugehen; sie versprach sich nichts davon. Aber sie wußte nicht, wie sie ihn abwimmeln konnte. Kopfschmerzen oder eine dringende Arbeit vorzuschützen schien ihr unredlich und billig. Also hoffte sie inständig, daß er sich nicht melden würde.

      Aber als das Telefon dann nicht zur erwarteten Zeit klingelte, war sie überrascht über die leichte Enttäuschung, die sie empfand. Es fiel ihr plötzlich schwer, weiter an der Skizze ihres Bruders im Krankenbett zu arbeiten, die sie gerade begonnen hatte. Fast erleichtert legte sie den Zeichenblock aus der Hand, als das Telefon dann doch noch läutete, erhob sich, stellte ihre Stereoanlage ab, nahm den Hörer auf und meldete sich.

      „Tut mir leid, Marie“, sagte er als erstes, „daß ich mich verspätet habe!“

      „Macht ja nichts.“

      „Jetzt werden Sie mich für einen ganz unzuverlässigen Menschen halten.“

      „Überhaupt nicht.“

      „Aber jetzt bin ich in zehn Minuten bei Ihnen!“

      „Warten Sie!“ rief sie rasch. „Sagen Sie mir bitte, was ich anziehen soll?“

      „Sie sind noch nicht angezogen?“ fragte er erstaunt.

      „Natürlich bin ich das. Aber nicht zum Ausgehen.“

      „Hatten Sie vergessen, daß wir verabredet sind?“

      „Nein. Aber ich weiß doch nicht, was Sie Vorhaben.“

      „Ich habe uns einen Tisch im ,B Eins‘ reservieren lassen.“

      „Was ist das?“

      „Ein Lokal. Sie werden schon sehen.“

      „Muß ich mich dafür schön machen?“

      „Darum möchte ich doch sehr bitten. Damit ich stolz auf Sie sein kann.“

      Wider Willen mußte sie lächeln. „Ich werde tun, was in meinen Kräften steht.“

      „Sie brauchen sich nicht zu beeilen“, versicherte er, „ich werde warten, solange es nötig ist.“

      Als sie dann, eine knappe Viertelstunde später, auf die Straße trat, sah sie tatsächlich blendend aus. Sie trug ein gutgeschnittenes Jackenkleid aus reiner Schurwolle, dessen helles Blau die Farbe ihrer Augen betonte, darunter eine weiße, mit Spitzen besetzte Bluse. Das starke Rot ihrer Lippen hatte sie mit einem hellen Stift gemildert, Wimpern und Augenbrauen getuscht und graublaue Lidschatten aufgelegt. Das blonde Haar bauschte sich um ihr klares Gesicht. Das Schönste an ihr aber war ihre porzellanglatte, schneeweiße Haut, völlig frei von Puder und Schminke.

      Paul Sanner trat bei ihrem Anblick einen Schritt zurück. „Überwältigend!“ stieß er hervor.

      Sie lächelte ihm zu, aber ihre Augen blieben ernst. „Ich freue mich, daß ich Ihnen gefalle.“

      „Gefallen


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