Die Frau mit dem zweiten Gesicht. Marie Louise Fischer

Die Frau mit dem zweiten Gesicht - Marie Louise Fischer


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      Paul Sanner wunderte sich über sich selbst. Er hätte über ihr Verhalten verärgert sein sollen, aber er war es nicht. Gerade ihre ablehnende Haltung reizte ihn, das Spiel nicht aufzugeben. Noch nachträglich beglückwünschte er sich, zum Tatort gefahren zu sein. Die Meldung über den Vorfall war nicht mehr als drei Zeilen wert. Aber er war sicher, daß mehr, viel mehr dahinterstecken mußte.

      2

      Der Hof war stockdunkel; die kleine Lampe über der Tür des Hinterhauses genügte nicht, ihn zu erhellen, sondern verstärkte noch den Eindruck pechschwarzer Finsternis. Aber Marie Forester empfand keine Spur von Furcht. Sie war sicher, daß ihr hier keine Gefahr drohte.

      Ohne ihn wahrzunehmen, wich sie dem Lieferwagen der Computerfirma aus, die das Hinterhaus gemietet hatte. Es war stets die gleiche Stelle, an der er nachts geparkt wurde. Tagsüber ging es hier lebhaft zu. Es war ein ständiges Anfahren und Abfahren, Ausladen und Aufladen, Kommen und Gehen. Aber nach Geschäftsschluß lagen Haus und Hof völlig verlassen. Marie Forester hatte die einzige Privatwohnung, ein Atelier im fünften Stock unter dem Dach. Es machte ihr nichts aus, ja, es gefiel ihr sogar, und nicht nur deshalb, weil sie ihre Stereoanlage so laut aufdrehen konnte, wie sie wollte, ohne daß sie fürchten mußte, jemanden dadurch zu stören.

      Ohne Angst schloß sie das leere Haus auf, trat ein, knipste die Beleuchtung an und schloß hinter sich ab. Mit dem Lift fuhr sie in den vierten Stock hinauf.

      Dabei schoß es ihr durch den Kopf, daß ihr Bruder sie oft davor gewarnt hatte.

      „Paß nur auf“, sagte er immer wieder, „früher oder später wird er einmal steckenbleiben, und du wirst die ganze Nacht darin verbringen müssen.“

      „Und wenn schon!“ lautete ihre stereotype Antwort. „Für eine Person ist Platz und Luft genug drin.“

      Heute, gestand sie sich allerdings, wäre ihr ein solcher Zwischenfall höchst unwillkommen gewesen. Sie sehnte sich nach ihrem Bett und war froh, als sie aussteigen konnte. Die letzte Treppe mußte sie zu Fuß erklimmen, denn der Lift fuhr nicht bis zum fünften Stock.

      Sie schloß ihr Atelier auf – das Deckenlicht hatte sie brennen lassen –, schlüpfte aus ihrem Parka und hängte ihn auf den runden Kleiderständer. Sie streifte sich die Turnschuhe von den Füßen, lief ins Bad, riß sich Hemd und Hose vom Körper, warf sie achtlos in eine Ecke, stieg in die Badewanne und duschte sich ab. Danach hüllte sie sich in ein großes Frotteetuch, löschte alle Lichter und schlüpfte in das Bettzeug der schon für die Nacht gerichteten Couch.

      Kaum daß sie den Wecker gestellt hatte, war sie auch schon eingeschlafen.

      Hauptwachtmeister Werner, der Marie Forester am nächsten Morgen empfing und sie in ein kleines, kahles Vernehmungszimmer führte, war ein ruhiger, erfahrener Beamter. Er bat sie, Platz zu nehmen, fragte sie sogar, ob sie einen Kaffee haben oder rauchen wollte, was sie beides ablehnte.

      „Ist es Ihnen recht, wenn ich ein Tonband laufen lasse?“ fragte er. „Dann kann einer meiner Leute es gleich anschließend abschreiben. Das ist angenehmer, als wenn ich selber tippe.“

      Marie war einverstanden.

      Mit einem Klick schaltete sich das Tonband ein und lief dann geräuschlos weiter.

      Oberkommissar Werner zündete sich eine Zigarette an und zog einen schweren Porzellanaschenbecher mit der Reklame einer Autofirma näher an sich heran. Er schlug einen grasgrünen Ordner auf.

      „Ihre Personalien haben wir also!“ stellte er fest. „Sie heißen Marie Forester, sind zwanzig Jahre alt, in Bayreuth geboren und leben seit zwei Jahren in München. Ist das richtig?“

      „Ja.“ Sie merkte, daß sie die Hände verkrampft hatte, löste sie und versuchte, sich zu entspannen.

      „Daß Sie nicht vorbestraft sind, haben wir inzwischen festgestellt. Aber hatten Sie jemals etwas mit der Polizei zu tun?“

      „Nein.“

      „Denken Sie genau nach!“

      Angestrengt überlegte Marie die Antwort auf diese Frage. Dann gab sie zu: „Einmal. Ich war noch ein halbes Kind. Vierzehn Jahre alt. Da ist in der Nacht ein Feuer ausgebrochen. Im Bastelraum, der war in einem Nebengebäude. Damals besuchte ich ein Internat. Ich geriet in Verdacht, das Feuer gelegt zu haben. Aber ich hatte nichts damit zu tun.“ Sie blickte ihn an, und die leicht verschleierte blaugrüne Iris verwandelte sich in ein intensives Blau. „Wirklich nicht.“

      „Ist man grob mit Ihnen umgesprungen?“

      „Nein. Der Polizist war eher nett. Ich hatte das Gefühl, daß er von Anfang an den Verdacht, den die anderen gegen mich hatten, nicht teilte.“ Die Erinnerung an jene entsetzlichen Tage, in denen die Lehrer sie schikaniert und ihre Freundinnen sich von ihr distanziert hatten, überfiel sie mit Macht.

      „Ist Ihnen nicht gut?“ fragte der Kommissar besorgt.

      Marie schüttelte den Kopf.

      „Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“

      „Nein, danke. Es geht schon.“

      „Sie haben also keinerlei Ressentiments gegenüber der Polizei? Keine Abneigung gegen die ,Bullen‘, wie man heutzutage so schön sagt?“

      „Nein. Bestimmt nicht.“

      „Freut mich zu hören. Dann werden Sie uns also helfen, und das ist gut so. Gestern nacht standen Sie unter einem Schock. Verständlich.“ Er schlug den Ordner zu. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag: wir vergessen Ihre erste Aussage und fangen von vorne an.“

      „Was ich Ihrem Kollegen gesagt habe, war die Wahrheit.“

      „Fräulein Forester, ich fürchte, Sie machen sich nicht klar, um was es geht. Ihr Bruder ist niedergestochen worden. Ein Verbrechen, das wir aufdecken wollen. Es kann doch nicht in Ihrem Sinne sein, daß der Täter entkommt?“

      „Warum fragen Sie nicht meinen Bruder?“

      „Das werden wir tun.“ Hauptwachtmeister Werner drückte mit einer fast brutalen Geste seine Zigarette aus. „Falls er überlebt.“

      „Das wird er!“ sagte Marie heftig. „Er darf nicht sterben!“

      „Sein Tod würde die Situation für Sie ändern?“

      „Nein! Natürlich doch. Es würde einen schweren Einschnitt in mein Leben … in unser Familienleben bedeuten. Aber eine andere Aussage machen könnte ich trotzdem nicht.“

      „Versuchen Sie es bitte noch einmal. Ganz von vorne. Vielleicht kommen wir dann der Wahrheit auf die Spur. Versuchen Sie es!“

      „Es fing damit an, daß ich nicht einschlafen konnte. Das passiert mir nicht oft, aber manchmal. Plötzlich hatte ich es satt, mich hin und her zu werfen und mir dumme Gedanken zu machen. Wenn man nachts nicht schlafen kann, tut man das ja. Ich entschloß mich, noch ein bißchen herumzulaufen, um müde zu werden.“

      „Sie haben nicht etwa einen Anruf bekommen?“

      „Nein.“

      „Denken Sie genau nach!“

      „Nein. Es war ja auch schon sehr spät. Um diese Zeit ruft niemand mehr an.“

      „Haben Sie auf die Uhr gesehen?“

      Ja, auf meinen Wecker. Es war fünf Minuten nach eins, als ich aufstand.“

      „Also weit nach Mitternacht. Pflegen Sie öfter um diese Zeit durch die Stadt zu laufen?“

      „Manchmal. Wenn ich nicht schlafen kann, wie gesagt.“

      „Haben Sie denn keine Angst?“

      „Nein.“

      „Sie wissen nicht, daß solche Streifzüge für eine junge Frau gefährlich enden können?“

      „Das schon. Aber nicht für mich. Ich habe einfach so das


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