Der Club der Unzertrennlichen - Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm

Der Club der Unzertrennlichen - Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm


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gesagt.

      »Keine von uns hat sich besonders oft gemeldet. Ich jedenfalls nicht. Seit Solveig nach Skörping gezogen ist, haben wir uns fast nicht mehr getroffen.«

      Er konnte sehen, wie Mettes Körper sich zu einer Art Verteidigungshaltung versteifte. Sie schien ihre Trauer dadurch beherrschen zu wollen, dass sie sich wütend anhörte.

      »Wir hatten doch alle mit unseren eigenen Angelegenheiten genug zu tun.«

      Isabel mit der Singstimme hielt mit beiden Händen ihren Bierkrug fest.

      »Ich weiß ja nicht, wie es euch geht. Aber ich fühle mich einfach total mies. Ich glaube, das wäre niemals passiert, wenn wir da gewesen wären.«

      Sie schaute die anderen an, und für einen Moment glaubte der Pastor, ihr Blick habe auch ihn gestreift. Ein offener Blick, der keine Gefühle verbergen konnte. In diesem Blick lag eine Unschuld, dachte er und verwarf dieses Wort dann doch. Es passte einfach nicht zu einer erwachsenen Frau von Mitte dreißig.

      »Wo ist bloß die Zeit geblieben?«, fragte die Frau. »Warum haben wir nicht besser zusammengehalten? Was hat uns dermaßen beschäftigt, dass es wichtiger war als alte Freundschaften?«

      »Kinder«, erklärte Mette. »Wenn etwas ein unternehmungslustiges Leben erfolgreich beenden kann, dann kleine Kinder.«

      »Große Kinder nehmen auch Zeit in Anspruch«, warf Pernille dazwischen, während Isabel lächelte.

      »Diese Entschuldigung kann ich aber nicht anführen.«

      Mette ließ ihren Blick von der einen zur anderen wandern.

      »Brauchen wir denn wirklich Entschuldigungen? Ist es nicht ganz natürlich, dass Freundschaften auseinander gleiten und dann später wieder aufgenommen werden?«

      »In einigen Fällen vielleicht. Bei uns aber nicht. Uns hätte das niemals passieren dürfen«, erklärte Pernille und fugte nach einer Pause hinzu:

      »Bin ich hier die Einzige, die Hunger hat?«

      Sie bestellten belegte Brote, und Henning Nyborg fiel ein, dass auch er sich ein verspätetes Mittagessen gönnen sollte. Er hob den Arm, um der Kellnerin zuzuwinken, und freute sich, als seine drei Brote gebracht wurden. Gestärkt vom Imbiss und vom Bier lauschte er dann schamlos weiter, während jede der drei Frauen die anderen auf den neuesten Stand brachte, was ihr Leben anging. Er entnahm dem Gespräch, dass Isabel Pianistin war, in Kopenhagen lebte und die anderen seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Pernille und Mette wohnten beide in der Umgebung von Århus, doch ihre Beziehung war auf Grund von Geburten und beruflichen Verpflichtungen auf Sparflamme gehalten worden, und auch die beiden hatten einander schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Pernille hatte als Sozialarbeiterin viel zu tun, während Mette offenbar eben erst nach Beendigung des Mutterschaftsurlaubs ihre Stelle als Englischlehrerin an einem Gymnasium wieder aufgenommen hatte.

      Später, als Teller und Bierkrüge leer waren, saßen die drei plötzlich wieder schweigend am Tisch.

      »Wir hätten etwas unternehmen sollen«, murmelte Isabel. »Wir hätten es vielleicht verhindern können.«

      Sie schwiegen eine Weile.

      »Wir können auch gleich zugeben, dass wir sie im Stich gelassen haben«, sagte Isabel dann mit harter Stimme. »Das will ich gern als Erste zugeben.«

      Er hörte sich diese Geständnisse an. Es war die Rede von nicht erwiderten Kontaktversuchen. Von hektischen, unterbrochenen Telefongesprächen und dem Versprechen, zurückzurufen, wenn das Baby gefüttert und die Sonate zu Ende geübt wäre. Von Briefen, die in der Eile nicht beantwortet, sondern im Stapel der nicht so eiligen Post abgelegt worden waren. Bis selbst die kleinen Lebenszeichen per Telefon verstummt waren.

      »Wisst ihr noch, wie anders das früher war?«, fragte Mette mit leiser Stimme. »Damals hatten wir Zeit füreinander.«

      Isabel fügte hinzu:

      »Damals waren Freundschaft und Freiheit das Wichtigste auf der Welt. Wichtiger als Karriere, Kinder, Paarbeziehungen und der ganz normale Egoismus.«

      »Damals hätten wir alles füreinander getan«, sagte Mette.

      Isabel machte den Anfang. Schweigend streckte sie die Hand aus und legte sie mitten auf den Tisch. Mette folgte ihrem Beispiel, dann, als Letzte, war auch Pernille dabei, und die drei rechten Hände hielten einander umfasst.

      Diese Berührung schien den drei Frauen Kraft zu vermitteln. Eine besondere Energie schien plötzlich von der einen auf die andere überzugreifen. Pastor Nyborg merkte, wie er sich gerader hinsetzte und sich von den drei jetzt mit Bedeutung geladenen Stimmen einfangen ließ.

      »Wisst ihr noch, wann wir zuletzt so zusammengesessen haben?«, fragte Mette.

      Isabel nickte.

      »Damals, als wir noch unsere Träume hatten. Als uns die ganze Welt offen stand und alles möglich war . . . Damals, als Freundschaft nicht nur ein Wort war.«

      »Meine Güte, was waren wir jung.« Pernille lachte leicht angespannt.

      »Und dumm?«, fragte Isabel.

      Mette schüttelte den Kopf.

      »Nur jung. Dumm sind wir erst mit dem Alter geworden.« Isabels Augen funkelten lebhaft.

      »Wisst ihr noch? Wisst ihr noch, wie wir den ›Klub der Unzertrennlichen‹ gegründet haben? Wie wir als ›Freie Frauen‹ leben wollten?«

      SEPTEMBER 1980

      ISABEL

      Mendelssohn würde sie noch umbringen!

      Isabel schaute auf die Uhr. Noch mindestens zwei Stunden. Aber zum Glück würde sie die »Variations Sérieuses«, die sie jetzt pflichtschuldig seit anderthalb Stunden übte, bald beendet haben. In Wirklichkeit war das eine Zeitverschwendung, denn sie wusste genau, dass nicht Zeit, sondern Konzentration entscheidend war. Und ihre Konzentration war wie die einer Fünfjährigen, obwohl sie doch gerade ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Sie wollte viel lieber an den Abend mit den Freundinnen denken, der sie später erwartete.

      Sie griff nach dem Metronom, zog es auf und stellte es auf »Allegro vivace«. Wie sie dieses Stück hasste! Die schwierigen Passagen wollten ihr einfach nicht gelingen. Die Fingerhaltung war unlogisch, und für einen Moment betrachtete sie ihre kurzen Finger, die in dem verzweifelten Versuch, den komplizierten Griff zu schaffen, über die Tasten flatterten. Sie dachte an Victor Wozniak, dem sie bei der Aufnahmeprüfung für das Konservatorium vorgespielt hatte. Als sie die Chopin-Etüde, wie sie glaubte, mit Bravour beendet hatte, hatte der polnische Klavierprofessor ihre Hand genommen und gemustert wie ein Studienobjekt im Biologieunterricht.

      »Hmmm«, hatte er gesagt. »Ja, die Physis kann vielleicht zum Problem werden. Wie viel bekommen Sie in den Griff? Eine Oktave?« Er hatte ihre Finger vor seine eigene Hand gehalten, die mit Leichtigkeit eine Dezime schaffte.

      Er hatte mit dieser Bemerkung ins Schwarze getroffen, denn mit gutem Willen und einer Portion Einbildungskraft schaffte sie wirklich gerade eine Oktave.

      Aber die Aufnahmeprüfung hatte sie bestanden, und jetzt wollte sie ihnen verflixt noch mal zeigen, dass auch ein Winzling von einsfünfundsechzig und mit Wurstfingern es in einer Welt, in der alle im Namen der Kunst einander argwöhnisch bewachten, zu etwas bringen konnte. Die werden schon sehen, zum Henker, dachte sie und drückte das Pedal bis nach unten durch.

      Doch wieder versagte ihre Konzentration, und ihre Gedanken flohen von der Musik zur abendlichen Zusammenkunft.

      Gereizt warf sie Mendelssohn beiseite und fischte Beethoven hervor. Den hatte sie sich ganz bewusst aufgespart. Er war eine Art Leckerbissen nach der Plackerei mit Mendelssohn, sie war unsterblich in die Pathétique-Sonate verliebt, vor allem in den langsamen zweiten Satz.

      »O Herz, o Schmerz«, murmelte sie, während sie sich zur Sonate weiterblätterte. Vorsichtig schlug sie die ersten Takte an. Es klang gut. Nach verlorener Liebe und zerbrochenen Illusionen. Aber sie konnte


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