Der Club der Unzertrennlichen - Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm
Treffen, aber an diesem Tag ging ihr etwas die ganze Zeit durch den Kopf und wollte ihr keine Ruhe lassen: ihre Mutter, oder, genauer gesagt, die Geliebte ihrer Mutter, Ruth.
Sie streckte ein langes Bein zur untersten Treppenstufe aus und betrachtete die selbst gestrickten Socken in den neuen Gesundheitsschuhen, die sie sich eben geleistet hatte. Für einen Moment dachte sie über die seltsame Tatsache nach, dass Sockenstricken zu ihren absoluten Lieblingsbeschäftigungen zählte. Eigentlich hätten ganz andere Dinge die Hitliste anführen müssen, zum Beispiel die Lektüre der Diskussionsseiten in der Zeitung Information oder der Verkauf von Plaketten am Greenpeace-Stand in der Fußgängerzone. Aber egal. Auch Sockenstricken war doch ein kleiner Beitrag zum Umweltschutz, denn die Wolle stammte von den Schafen ihrer Mutter, sie hatte sie selber gefärbt, gesponnen und zu Garnsträngen aufgewickelt, und jedes Mal, wenn sie ein Paar Socken verschenkte, wurden anderswo Rohstoffe gespart, und der Umwelt wurden die giftigen Farbstoffe erspart, die in der Industrie verwendet wurden. Natürlich ließe sich theoretisch einwenden, dass sie durch ihr Stricken den Frauen an den Strickmaschinen die Arbeit wegnahm. Aber das wäre nun wirklich arg theoretisch gewesen . . .
»Musst du mal wieder die Probleme aller Welt lösen?«
Sie schaute auf. Solveig stand lächelnd vor ihr, in ihrem Anorak und mit dem Rucksack auf dem Rücken. Die Fahrt mit dem Rad hatte ihre Wangen gerötet, und ihre blonden Haare klebten schweißnass an ihrer Stirn.
Sie gingen die Treppe hoch und begrüßten einige der Schwulen, die sie jedes Mal hier in Spanien trafen.
»Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich in deren Abteilung nicht zu tief nach der Seife bücken«, pflegte Solveig dann immer zu sagen.
Anfangs hatte die Anwesenheit der Schwulen ihr Probleme gemacht, während Pernille diese kaum registriert hatte. So weit sie sich zurückerinnern konnte, hatte ihre Mutter immer Lesben und Schwule in allen Größen und Altersklassen ins Haus geschleppt.
»Also? Was macht dir solches Kopfzerbrechen?«
Solveig konnte ihre Freundin immer durchschauen. Sie kannten einander so gut. Schon seit dem Tag in der dritten Klasse der Lisbjergschule, an dem Solveig als die Neue in der Klasse vorgestellt worden war. Die anderen Bauerngören hatten die Neue mit den wohlhabenden Eltern, die immer nach dem letzten Schrei gekleidet war, sofort argwöhnisch beäugt. Pernille dagegen hatte zu Hause gelernt, dass niemand ausgeschlossen werden durfte, und obwohl ihre Mutter dabei vielleicht nicht gerade an reiche Oberarzttöchter gedacht hatte, wurde Solveig schon bald in das kleine reetgedeckte Haus in Skejby mitgeschleppt.
»Meine Mutter«, teilte Pernille mit Grabesstimme mit.
»Was ist mit ihr?«, fragte Solveig.
»Ruth ist eingezogen.«
»Uakk! Und was sagt dein Vater dazu?«
Pernille zuckte mit den Schultern.
»Nichts, glaube ich. Der ist doch ein Schlappschwanz. Das wissen wir ja.«
Sie lugte zu Solveig hinüber, und die lächelte bekümmert.
»Armer Niller!«
Pernille nickte zustimmend.
»Aber wenn es denn schon sein muss, dann ist es gut, dass es dich trifft«, neckte Solveig, als sie sich im Umkleideraum auszogen.
Pernille stellte sich unter die Dusche und seifte ihren Körper mit einem der Wegwerfschwämme ein, die zum allgemeinen Gebrauch in einem großen Korb lagen. Die benutzten landeten in einem anderen Korb, und beide prägten sich genau ein, welche wo lagen, um sich nicht an den benutzten Schwämmen fremder Leute zu vergreifen.
»Wieso das denn?«
»Weil du so tolerant bist«, keuchte Solveig unter der kalten Dusche. Sie duschte immer kalt.
»Ich bin gar nicht tolerant, wenn es um meine Mutter geht.«
»Betrachte es als Herausforderung. Damit wird dein Charakter auf die Probe gestellt«, erklärte Solveig und streifte ihren lila Badeanzug über.
»Du findest vielleicht, ich hätte es verdient, dass meine Mutter mit ihrer lesbischen Freundin in demselben Haus zusammenlebt, in dem mein Vater noch immer wohnt und in dem Peter und ich aufgewachsen sind? Findest du das?«
Sie wusste genau, dass sie sich unnötig aufregte. Aber manchmal konnte sie einfach nicht anders. Sie wusste, dass sie alles zu wörtlich nahm, und sie wusste auch, dass die Röte jetzt von ihrem Hals her nach oben wanderte.
Solveig lachte nur und schlug mit ihrem Handtuch nach ihr.
»Manchmal bist du einfach nur blöd, du Dussel. Natürlich hast du das nicht verdient. Habe ich das vielleicht behauptet?«
»Du hast es angedeutet.«
»Nichts da. Wer zuerst im Wasser ist!«
Sie rannten los, so gut sich das auf dem glatten Boden machen ließ, doch wie immer erstarrte Pernille vor dem Sprung ins Becken. Solveig dagegen sprang sofort los und tauchte wie ein Fisch zum Boden. Sie war eine Wasserratte; sie war überhaupt eine begeisterte Sportlerin.
Pernille hielt einen Zeh ins Wasser und fröstelte.
»Na los. Mach schnell. Spring, verdammt!«
Sie holte tief Luft. Und dann wurde sie vom kalten, scharfen Chlorwasser umschlungen.
Sie schwammen wie immer fünfzehn Bahnen. Das war nicht viel, aber Kleinvieh macht auch Mist, und es war trotz allem ein Luxusbad. Während das eisblaue Wasser bei jedem Zug ihrer Körperfülle wich und Solveig wie aus einer Kanone geschossen dahinjagte, dachte Pernille an ihre Mutter.
Vor langer Zeit war sie einmal eine ganz normale Mutter gewesen. Eine, die dafür gesorgt hatte, dass Pernille und Peter Pausenbrote mit in die Schule nahmen, die putzte und sonntags Brathähnchen servierte. Doch eines Tages, als Pernille gerade elf war, hatte sie dann erklärt, sie wolle sich jetzt selbst verwirklichen. Von diesem Tag an war das Leben zu Hause auf den Kopf gestellt worden, und das Brathähnchen hatte Linsenpastete und Möhrensuppe weichen müssen. Das Abonnement der Århus Stiftstidende war gekündigt worden, jetzt wurde nur noch die Information gelesen, und Pernilles Mutter war nie mehr zu Hause, weil sie sich allen möglichen Aktionsgruppen angeschlossen hatte, in denen alles zwischen Ozonloch und Selbstentwicklung diskutiert wurde. Pernille wurde in Frauenlager mitgenommen, wo ihre Mutter an einem denkwürdigen Johannisabend eine Offenbarung erlebt und ihre lesbische Identität entdeckt hatte. Pernille konnte sich noch genau an den Abend erinnern, an dem ihre Mutter ihr diese Neuigkeit mitgeteilt und sie selber zum ersten Mal die bodenlose Angst empfunden hatte, die sie seither verfolgte und die sie immer wieder mit Gewalt unterdrücken musste.
Als habe diese Erinnerung sie endgültig eingeholt, schlug plötzlich das Chlorwasser über ihr zusammen. Das dauerte nur einen Moment, war aber so beängstigend wie immer. Diese verdammte Angst. Geh weg. Ich will nicht. Heute nicht.
Sie legte alle Kraftreserven in ihre Schwimmzüge und schoss durch das Wasser davon. Bei jedem Zug wurde die Angst ein wenig gedämpft, und das ängstliche Hämmern ihres Herzens machte Erschöpfung Platz. Müdigkeit, die konnte sie jetzt brauchen. Müde sein tat gut, dann merkte sie nicht mehr so viel.
»He, was ist denn in dich gefahren? Trainierst du für die Olympiade?«
Solveig bespritzte sie von der benachbarten Bahn her und holte sie damit in die Gegenwart zurück, wie nur Solveig das konnte.
Pernille lächelte erleichtert. Es war doch nichts. Und damit nichts, vor dem sie sich furchten musste. Es gab nur das Wasser und das Schwimmen und Solveig und die Erwartung des Dampfbades, das ihr die allerletzten Kräfte nehmen und sie in Leib und Seele läutern würde.
Sie schaute auf die Schwimmbaduhr. Sie waren erst seit zehn Minuten im Wasser.
»Sollen wir nicht aufhören?«
»Ach, noch fünf Minuten«, verlangte Solveig.
Gleich darauf hörte Pernille ein Platschen, und alles um sie herum war nur noch Wasser, Wasser und