Der Club der Unzertrennlichen - Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm
Die Tür wurde geöffnet, und ihre Großmutter schaute herein.
»Der Kaffee ist fertig, Bella. Kommst du nach oben?«
Isabel spielte weiter, nickte aber, während ihre Finger in einem angestrebten Legato über die Tasten glitten.
»Kennst du das hier?«
Die Großmutter lauschte einen Moment, dann legte sie den Kopf schräg und summte mit tiefer, rostiger Stimme das Thema mit.
Sie brauchte nur dem Duft von Kaffee und frisch gebackenem Brot aus dem Übungsraum im Keller bis hinauf in die kleine Wohnung ihrer Großmutter zu folgen, die die Nachbarwohnung zu ihrer eigenen war. Die Großmutter war schon vorgegangen, gazellendünn und fast ebenso adrett, und machte sich an dem Brot zu schaffen, das sie eben erst aus dem Ofen genommen hatte. Mit gewohnt schnellen Bewegungen packte sie drei Brote auf den Rost. Isabel beobachtete sie mit liebevollem Blick. Sie und ihre Großmutter waren jetzt seit einem halben Jahr Nachbarinnen, und das Zusammenleben übertraf alle Erwartungen.
Manchmal schämte sie sich der bangen Ahnungen, die sie damals gehegt hatte, als die einzige freie Wohnung neben der ihrer Großmutter gelegen hatte. Überempfindlich wie sie war, hatte sie damit gerechnet, dass die alte Frau in alles ihre Nase stecken werde. Aber bald hatte sich herausgestellt, dass sie ihre Großmutter einfach nur schlecht gekannt hatte. Immer diskret und niemals aufdringlich hatte diese eine Grenze zwischen Familienleben und Privatsphäre gezogen.
»Hm, das riecht aber gut. Darf ich mal probieren?«
»Das war eigentlich der Sinn der Sache.«
Die Großmutter schnitt zwei Scheiben Weißbrot ab und bestrich sie dick mit Butter.
»Deine Mutter hat angerufen.«
»Mm«, sagte Isabel mit vollem Mund. »Und was wollte sie?« Die Großmutter trug das Tablett ins Wohnzimmer. Isabel hörte die Tassen leise klirren.
»Du könntest ja zurückrufen und sie selber danach fragen.«
»Das mach ich später.«
»Das hast du auch gestern gesagt«, erwiderte die Großmutter und schenkte für beide rabenschwarzen Kaffee ein.
»Jetzt fang du nicht auch noch an. Ich ruf sie ja an. Wenn ich so weit bin.«
Die Großmutter streckte die Hand nach einem Stück Weißbrot aus und lächelte, so dass sich die Runzeln in ihrem Gesicht verdoppelten.
»Das weiß ich doch, kleine Bella.« Sie tippte mit dem Finger auf ein Buch, das, versehen mit einem Lesezeichen, auf dem Sofa lag.
»Kennst du den? Christian Kampmann?«
Isabel schluckte etwas schneller als geplant einen Mund voll glühend heißem Kaffee hinunter.
»Aber Oma. Der ist doch schwul!«
Die Großmutter machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Jaja, das kann schon möglich sein. Aber er ist so witzig . . . und frech.« Sie grinste viel sagend.
Isabel lachte laut.
»Du bist wirklich unbezahlbar. Was sagen sie denn in der Bücherei dazu, dass eine alte Dame von achtzig Jahren sich Schwulenromane ausleiht?«
»Was sollen sie schon sagen«, sagte die Großmutter gelassen. »Ich habe doch inzwischen alle anderen Bücher gelesen, und das psychologische Geschwafel habe ich satt.«
»Dann lieber ein paar offene Worte über knackige Hintern in strammen Hosen?«
Die Großmutter nippte an ihrem Kaffee.
»Du solltest deine Jugend genießen, Bella«, sagte sie ernst. »Als ich jung war, durften wir nichts. Heute dürft ihr machen, was ihr wollt.« Isabel verzog das Gesicht.
»Vielleicht ist das ja gerade das Problem.«
»Aber etwas verstehe ich trotzdem nicht«, sagte die Großmutter ungerührt. »Ich kann mir ja vorstellen, wie zwei Männer das machen. Aber wenn zwei Frauen zusammen ins Bett gehen . . . kannst du mir das erklären, Bella? Ich begreife einfach nicht, wie die das machen!«
Isabel wollte schon den Kopf in den Nacken legen und losprusten, doch dann sah sie, dass ihre Großmutter das ernst gemeint hatte.
»Ich gehe davon aus, dass sie sich gegenseitig zum Orgasmus bringen«, sagte sie nach einer Weile.
»Das ist mir schon klar. Aber wie?«
Isabel wusste nicht so recht, ob diese Wendung, die ihr Gespräch hier genommen hatte, ihr gefiel. »Ach, zum Henker«, sagte sie endlich. »Woher soll ich das wissen?«
Die Großmutter schnaubte skeptisch. »Na, das kann ja auch egal sein. Aber ich kann wirklich noch immer nicht verstehen . . .«
»Hast du ansonsten in letzter Zeit etwas Interessantes gelesen – außer Kampmann?«, fragte Isabel verzweifelt.
Die Großmutter strahlte.
»O ja, das musst du auch lesen . . . einen wunderbaren Krimi von einer Amerikanerin, ich kann den Namen nicht aussprechen. Darin gibt es alles. Gewalt, Sex, Romantik.«
Die Großmutter blickte sie mit unverhohlener Begeisterung an. Isabel verdrehte die Augen.
»Du hättest Schriftstellerin werden sollen. Dann wären wir jetzt Milliardärinnen!«
Sie schaltete ihr Fahrrad in einen anderen Gang und stellte sich auf die Pedale, als sie den Fattiggårdsbakken hochfuhr, vorbei am vertrauten Anblick von Dom und Reitstall. Århus lag eingetaucht im Licht der tief stehenden Septembersonne; klar und frisch, als habe die Stadt eben erst einen Regenschauer abgeschüttelt und wärme sich jetzt in den letzten Sonnenstrahlen des Tages. Nur der schwache Geruch der ewig aktiven Ölmühle störte die ansonsten fast perfekte Idylle ein wenig. Ihre Liebe zu dieser Stadt kannte fast keine Vorbehalte, Århus gehörte beinahe so sehr zu ihrem Leben wie FrühstückskafFee und Käsebrote und die fünf Stunden Üben jeden Tag.
Im Weiterfahren überlegte sie, wie dieser Abend wohl ausfallen würde. Vielleicht würden sie später in der Stadt enden. In der Skolegade oder der Vestergade 58.
Sie hatte lange vor dem Spiegel gestanden und nicht gewusst, was sie anziehen sollte. Am Ende hatte sie sich für ein ziemlich verhüllendes Kleid aus einem Secondhandladen und ein selbst gehäkeltes lila Tuch entschieden. Das Kleid war aus einer alten geblümten Schürze genäht worden, es war ein Relikt aus ihrer Gymnasialzeit. Die Person, die dieses Meisterwerk geschaffen hatte, hatte ein Oberteil aus zwei breiten, silbergrauen Veloursstreifen und ein Mittelteil aus einem handgestickten Kissenbezug hergestellt. Zwei hohe Stiefel ließen die Trägerin angemessen hart und romantisch zugleich aussehen. Isabel hatte sich vor dem Spiegel gedreht und gewendet, hatte mit ungeübter Hand ein wenig Make-up aufgetragen, hatte zwei Pickel mit brauner Creme getarnt und ansonsten resigniert ihre vierschrötige Gestalt gemustert. Eine Sylphide konnte sie wohl niemals werden, aber immerhin hatte sie schöne Augen. Und die dunklen Augenbrauen sahen unter ihren blonden Haaren schließlich interessant aus.
Mit einer Flasche Rioja in einer Plastiktüte auf dem Gepäckträger und mit einer mit Fransen versehenen Wildlederjacke über dem Kleid war sie zu allem bereit, was der Abend bereithalten mochte.
Sie hatte eben auf die Uhr geschaut, als Solveig ihre Tür in der Ålborggade aufriss. Lange, buttergelbe Haare umkränzten ein kerngesundes Gesicht mit sehr wenig Make-up und blaugrauen, fröhlich funkelnden Augen.
»Schön, dass du da bist. Pernille sehnt sich schon nach einem Publikum für ihre Predigt.«
»Worüber denn?«
Solveig verdrehte die Augen.
»Irgendein Greenpeace-Kram. Natürlich die pure Propaganda.«
Sie zwinkerte Isabel zu.
»Tu doch einfach so, als ob du ihr zuhörtest!«
Solveig ging auf Zehenspitzen