Lux. Olivia Kuderewski

Lux - Olivia Kuderewski


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an der Statue vorbei, ohne sich nach ihr umzusehen. Auf dem Video der Treppe würde man jetzt einen trockenen Fleck sehen.

      2

      Lux zieht die Beine an und lässt ihre Knie gegen den Vordersitz sinken. Das Plastik knackt leise, als sie langsam das ganze Gewicht ihrer Beine hineindrückt, sich vorsichtig in diesen kantigen Leerraum zwischen zwei Sitzen keilt wie ein Krebs in eine Felsspalte, ein Schalentier in einem amerikanischen Langstreckenbus.

      Das alte Polster der Sitze riecht. Hinter ihr atmet jemand sehr laut.

      »… Gepäck in die Ablage, was im Flur steht, fliegt raus. Stellt eure Kinder ruhig, dann bleib ich auch ruhig.«

      Die Befehle der Fahrerin dröhnen durch den Bus, sie muss die Lautstärke ihres Mikros voll aufgedreht haben. Lux meint, die Scheiben zittern zu sehen.

      »Also: Stellt mir keine Fragen. Und lasst mich einfach meinen Job machen.«

      Der Lautsprecher knackt, ein Husten aus der hintersten Ecke. Dann ist es still.

      Draußen zieht New York vorbei. Lux nimmt die Beine wieder runter, weiß nicht, wie sie sich hinsetzen soll, damit der Plastiksitz ihr nicht die Knochenkonstellation verschiebt. Aber das muss so sein, denkt sie: Man steigt auf der einen Seite des Kontinents in einen klapprigen Bus, in dem es immer zu kalt oder zu warm ist, in dem man durchgeschüttelt, in den Kurven hin- und hergeschleudert wird, man rauscht auf einer Strecke dahin, die so gerade und lang ist, dass die Rundung der Erde am Horizont sichtbar wird, mit der Schläfe gegen die Scheibe, dämmert weg, wacht wieder auf, und die Landschaft hat sich in der Zwischenzeit neu erfunden, und dann steigt man nach Stunden, in denen das Innere Kalk ansetzt und die Muskeln verhölzern, in denen alle im Bus zu Leidensgenossen geworden sind, aus, in einem anderen Teil des Landes, gerädert, aber glücklich, woanders zu sein.

      Vierzehn Stunden. Mit dem Auto wären es zehn, wenn sie es geschafft hätte, jemanden anzuhalten, zwei verschwendete Stunden am Straßenrand. Die Hitze hat sie kleingekriegt, sie wusste nicht, dass es im Juni in New York so heiß sein kann.

      Die verschwimmende Großstadt vor dem Busfenster. Das ist es, weswegen sie hergekommen ist, wegen einer Großstadt hinter einer Scheibe, wegen einer sich bewegenden Landschaft hinter einer Scheibe. Ist das nicht lächerlich?

      Leon wäre nie nach Amerika gefahren. Er hätte auch nicht Amerika gesagt, sondern »USA« oder »Vereinigte Staaten«, und er hätte das Gesicht bei dem Vorschlag verzogen, als wäre das etwas Ekelhaftes. Ist es nicht lächerlich, durch Amerika zu fahren, denkt Lux, oder war das Leons zischende Stimme in ihrem Ohr, die sie beim Versuch zu trampen kleingekriegt hat? Sei nicht so verdammt passiv. Sie lässt die Stirn wieder gegen die Scheibe sinken.

      Eine Frau, die vor den Hochhaustürmen völlig zerweht wird. Ihre Haare treiben im Wind, den Rock drückt sie mit einer Hand runter, die andere hält ihren Kaffee. Das Hupen auf den gigantischen Kreuzungen, deren Zebrastreifen grotesk verzogen sind von der Blechlawine, die jeden Tag darüberrollt. Die blendenden Plätze und die schattigen Gehwege, auf die niemals Sonne fallen wird, und der irre Blick der New Yorker, der alles durchschießt, manisch und ignorant. Sie spürt die erdkernnahe U-Bahn-Luft und die klirrende Kälte der Klimaanlagen noch auf der Haut. Hat den Geruch der Stadt noch in der Nase, den schmelzenden Asphalt. Ihr Blick verfängt sich weiter an den Metro-Schildern und den schwarzen Feuertreppen, auf die man sich zum Rauchen setzt. Es ist einfach. Es gibt hier Orte, an denen man ganz genau weiß, was zu tun ist.

      Sobald die Gebäude draußen niedriger werden und es nach Stadtrand aussieht, klickt sie sich durch die Fotos und Videos, die sie in den letzten Tagen gemacht hat. Den Großteil hat sie schon an Charles geschickt. Charles, die gesagt hat: »Schick mir alles, wenn ich schon nicht dabei sein kann.« Charles, die studieren muss und da nicht weg kann.

      Charles fehlt. Etwas fehlt dauernd neben Lux.

      Es sind Hunderte Bilder vom Himmel, vom blasser werdenden Himmel hinter Beton, Stein und Glas. Der hellblaue, der orange, der rote, der violette, der nachtblaue Himmel. Sie ist gelaufen, den ganzen Tag, bis in die Nacht hinein, ist gepilgert, dann wie tot ins Bett gefallen, um am nächsten Tag weiterzulaufen.

      Aber irgendwas stimmt mit diesen Bildern nicht.

      Sie hat nur ein einziges von sich selbst gemacht, und das nur, weil Charles sie darum gebeten hat, »als Beweis, sonst glaub ich dir nicht, dass du wirklich dort bist, mach schon«. Lux hat es am Ufer des East River geschossen, ein Bauzaun steht hinter ihr, es war kein besonders schöner Abschnitt am Fluss. Ihre fedrigen, halblangen Haare wehen vor den Zaunmaschen herum, sehen farblos aus, verschwinden fast im Hintergrund. Die Sonne blendet, und man erkennt kaum, welche Farbe ihre Augen haben. Es könnte beinahe ein Lächeln sein, dieser schmale, auf einer Seite verzogene Mund, aus dem die Zähne hervorblitzen. Lux entdeckt ein kleines Loch an dem ausgeleierten Saum des Shirts, direkt unter dem Schlüsselbein. Ihre Haut färbt sich schon, färbt sich schnell, jetzt, wo sie auch wieder an den Tagen wach ist.

      »Wow«, schreibt Charles zurück, und Lux muss lächeln. Während sie versucht, eines der Bilder zuzuschneiden, geht der Alarm in ihrer Hand los, bricht plötzlich in die rauschende Stille. Erschrocken wischt Lux ihn weg und sieht hoch, in die Gepäckablage über sich.

      Jetzt den ganzen Rucksack durchwühlen, die Stille aufwühlen, das Gepäck aus der Ablage holen, du hättest vorher daran denken sollen.

      Sie steht auf. Zieht an dem Riemen, der aus der Ablage heraushängt, zerrt daran, bis das Gewicht des Rucksacks an die Kante rutscht, auf sie zukippt. Lux reißt den Kopf zur Seite, die neunzehn Kilo treffen sie am Schlüsselbein und werfen sich mit einem dumpfen Geräusch auf den Sitz. Das Blut pocht in ihren Wangen.

      Sie muss sich mit beiden Händen bis an den Grund des Inneren wühlen. Muss die Arme bis über die Ellbogen darin versenken, graben, alles verschieben. Lux merkt nicht, wie sie die Luft anhält, erst als sie gefunden hat, was sie sucht, atmet sie wieder.

      Zahnbürste, Zahnpasta, Shampoo, ein Deo. Der Rest des Plastikbeutels, der schon so weißlich zerknittert ist, als hätte er eine Weltreise hinter sich, ist voll mit den knisternden, silbernen Streifen. Sie drückt eine der Tabletten so leise wie möglich raus, aber das Geräusch pflanzt sich in der wortlosen Stille viel zu weit fort.

      Jetzt weiß jeder in diesem Bus, dass du durchgeknallt bist.

      Sie schlägt sich die Tablette in den Mund und schluckt sie ohne Wasser. Als sie weiter nach ihrem Pulli wühlt, streift ihre Hand etwas im Rucksack, das dort gar nicht mehr sein sollte. Sie zieht es überrascht heraus. Die Mappe ist zerbeult, man sieht ihr an, dass sie herumgeschleppt wurde, die Ecken ausgefranst und abgeknickt.

      Du wolltest sie längst loswerden. Du wolltest sie an diesem Punkt schon losgeworden sein, du hattest dir Rituale dafür ausgedacht. Du wolltest sie von der Brooklyn Bridge in den East River segeln lassen, die Blätter hätten sich in alle Winde zerstreut. Oder ein kathartisches Lagerfeuer in der Nacht in einem der verwahrlosten Teile der Stadt, zwischen Bauzäunen, Lagerhallen und Müll.

      Lux hält sie mit beiden Händen auf dem Schoß. Sie starrt auf den Sticker in der Mitte des festen Papiers, auf dem so etwas wie Wald in Kleinformat gedruckt ist. Sie kennt das Bild, es ist die Aussicht von der Sonnenterrasse der Bekloppten auf Station 5. »Neue Lebensqualität« steht darüber mit einem hässlichen, grafischen Schwung in Orthopädiegrün, und in Lux flammt ein Ärger auf.

      Ganz vorne liegt der Entlassungsbericht. Sie zögert, aber überfliegt ihn dann doch, Teile davon kann sie auswendig. Ihr Blick holpert über Begriffe wie »stationär«, »rezidivierende depressive Störung«, »interaktionelle Gruppenpsychotherapie«, »Eigenverantwortung«, »gegenwärtig mittelgradige Episode« und die ICD-Nummer ihrer Diagnose. Der Wisch endet mit dem Satz: »Ausreichend stabilisiert sowie ausdrücklich und glaubhaft von akuter Suizidalität distanziert und absprachefähig wurde die Patientin aus unserer vollstationären Behandlung entlassen.« Auf der Rückseite drei Unterschriften und die Empfehlung zur Medikation.

      Lux knüllt den Zettel zusammen, das Papier faucht. Sie drückt ihre Faust so fest darum, dass sich ihre Fingernägel in den Handballen graben.


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