Lux. Olivia Kuderewski

Lux - Olivia Kuderewski


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ein Kinn, einen Hals, eine Schulter, es gießt sich über einen schlanken Körper, bis zur Taille. Lux’ Oberschenkel und das Knie dieser Gestalt berühren sich. Ihre Tigerschlafmaske ist ein bisschen verrutscht und gibt eine Augenbraue frei, die genauso weiß ist wie ihr Haar.

      Sie muss an einem der Zwischenhalte eingestiegen sein. Lux sieht an ihr herunter. Mit jeder Minute heben sich mehr Farben und Formen aus der Dunkelheit. Ihre Knie sind mit Rosen überzogen, eine transparenten Strumpfhose, auf die weiße und violette Pastellblumen gedruckt sind. Ein enges dunkelblaues Kleid, ärmellos und bis knapp über die Hüfte. Vom Hals bis zu den dünnen Handgelenken zieht sich weiße Spitze über ihre Arme, ihre Haut blitzt nur minimal dunkler durch die winzigen Löcher, und sie trägt grobe, braune Lederstiefel.

      Lux hat noch nie so einen blassen Menschen gesehen.

      Das weiße Haar reflektiert das Licht, wirft es zurück. Vom hellen Blaugrau der Dämmerung verwandelt es sich unmerklich langsam in ein Rosa, in ein Elfenbein, in ein fast weißes Strahlen, ein dichtes Fell, ein wilder, weißer Schleier. An den Schläfen hat sie fast Locken, kleine, weiß glänzende Wellen, die von der Stirn abfließen. Eine der Strähnen liegt über der Schulter, steht ab. Und Lux kann nicht anders, sie streckt die Hand aus, greift vorsichtig danach und zieht sie durch ihre Finger.

      Ein Schnauben. Lux zieht die Hand schnell zurück, die Strähne fällt. Sie hat ein wildes Klopfen im Brustkorb, ist sich aber plötzlich gar nicht sicher, ob das Geräusch wirklich von dieser Frau kam.

      Für ein paar Sekunden sieht es so aus, als würde sie einfach weiterschlafen. Versteinert, kühl und glatt. Sie sieht wirklich aus wie aus Stein gehauen, die scharfen Konturen der Lippen, die Wangenknochen, die feine lange Nase, der Absatz der Augenbraue. Plötzlich hebt sich eine ihrer weißen Hände aus dem Schoß. Träge, schwebend, wie von selbst. Schiebt die Maske über einem Auge hoch. Zwischen den schwarz verschmierten Wimpern blitzt es auf.

      »Hast du Wasser?«

      Ihre Stimme ist rau vom Schlaf. Lux braucht einen Moment, um zu verstehen, dass die Frage an sie gerichtet ist. »Äh, ja«, sagt sie, und zieht ihre halb volle Flasche Wasser aus dem Netz vor sich.

      Ihr Knie klebt immer noch an deinem Oberschenkel.

      »Kannst du mal?«

      Wieder kapiert Lux nicht, was sie will, sie hat ihr die Flasche in die Hand gedrückt, aber die andere trinkt nicht, hält sie bloß, als wüsste sie nicht, was damit zu tun ist. Dann fällt es ihr auf, natürlich, der Deckel, und Lux schraubt ihn umständlich ab.

      Es gluckert laut, als das Wasser in sie hineinläuft, in ein paar Zügen trinkt sie die Flasche leer, bis zum letzten Tropfen, und lässt sie dann einfach fallen, rollend verschwindet sie unter den Sitzen. Der Deckel bleibt in Lux’ Hand zurück.

      Sie knetet das Plastikteil und blickt aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen. Da rauscht Stadt vorbei im Morgenlicht, aber was für eine Stadt, irgendeine Stadt unter irgendeinem Himmel. Als sie einen unauffälligen Blick zur Seite wirft, merkt sie, dass das Auge nicht zugegangen ist. Es mustert sie unter der Schlafmaske.

      »Lux, nicht?«

      Sie sagt es richtig. Lux, mit einem richtigen »U«, kein unsauberes amerikanisches Halb-A, wie es sonst alle hier machen, und das »L« auch nicht kehlig, sondern so, wie es sein soll, mit der Zungenspitze gegen die Zähne. Die richtige Aussprache wundert Lux, aber noch nicht die Tatsache, dass sie ihren Namen kennt, da greift die andere schon an ihren Beinen vorbei in das Netz, in dem gerade noch die Wasserflasche gesteckt hat. Sie zieht das zerknitterte Busticket heraus, auf dem Lux’ voller Name steht. Ihre Finger sehen irgendwie zäh aus, wie sie das Ticket auseinanderfalten, die Nägel sind so kurz geschnitten, dass man kein Weiß sieht. Sie schiebt sich die Schlafmaske in die Haare, sodass jetzt ein paar Strähnen wie Antennen von ihrem Kopf abstehen, »ich hab mich die ganze Zeit gefragt, was das für ein merkwürdiger Name ist«, sagt sie, »aber du hast ewig geschlafen.« Es klingt wie ein Vorwurf.

      Lux schaut sich im Bus um. Die vorderen Reihen sind komplett leer, und auch hinter ihnen sitzen nur noch ein paar vereinzelte Leute, Alleinreisende, die den Rest der Fahrt auf Doppelsitzen verschlafen.

      »Warum sitzt du hier?«, fragt Lux und greift nach dem Ticket.

      Die andere lässt es sich ohne Probleme aus der Hand nehmen. Sie schnaubt auf. »Warum bist du hier?«, fragt sie.

      Und dann rückt sie weg, ihre Knie lösen sich von Lux’ Oberschenkel, sie zieht sie an und stemmt sie gegen den Sitz vor sich, knallt sie so dagegen, dass das Plastik laut knackt und die Scharniere quietschen.

      Sie lächelt. Spitze Zähne kommen zum Vorschein. Die Schlafmaske sitzt immer noch auf ihrem Kopf, und es sieht so aus, als wolle sie sie bereithalten für einen schnellen Identitätswechsel zum Tier. Sie nimmt die Knie doch wieder runter und bückt sich nach etwas am Boden, jede ihrer Bewegungen ist rücksichtslos, jede einzelne. Sie schmeißt sich eine Tasche aus altem, schwarzem Kunstleder, an deren Ecken die Beschichtung abgewetzt ist, auf den Schoß. Lux schielt auf ihre wühlenden Hände, sie entdeckt eine Packung Marlboro, ein glitzerndes Portemonnaie und eine lose Zahnbürste, irgendwann findet die andere eine Dose Kaugummis und schüttelt sie, um zu prüfen, ob noch was drin ist. Es rappelt wahnsinnig laut. Ein Kaugummi landet auf ihrer weißen Handfläche, sie schlägt ihn sich routiniert in den Mund, und ihr Kiefer fängt sofort an zu mahlen.

      Vier Augen, die Lux durchleuchten – dann reißt sie sich die Schlafmaske vom Kopf. Steht auf, kramt in der Gepäckablage über ihnen, findet eine kleine Bürste, kämmt sich ruppig die Strähnen durch, geht den Gang hinunter zur Toilette und knallt die dünne Kunststofftür hinter sich zu. Sie hat das Gespräch scheinbar beendet, und Lux’ Blick hängt ein paar Momente im Gang, blank, allein gelassen. Die Tasche hat sie auf dem Sitz liegen lassen, und es zuckt in Lux, darin nach ihrer Identität zu wühlen, so wie sie es mit ihrer getan hat.

      Sei nicht so passiv.

      Dann knackt der Lautsprecher und reißt sie aus ihren Gedanken, die Busfahrerin kündigt an, dass sie jetzt Detroit erreichen, nichts liegen lassen, vor allem keinen Müll, Greyhound ist keine Reinigungsfirma.

      Lux packt fahrig ihre Sachen zusammen und ist noch nicht fertig, als der Bus anhält und die Türen mit einem Zischen aufgehen. Sie stopft ihren Pulli in den Rucksack, will nach der leeren Flasche am Boden langen, tastet den krümeligen Teppich ab, findet sie nicht, sie ist zu weit weg gerollt, sieht auch die Mappe aus der Klinik nirgendwo, wer soll so etwas mitgenommen haben?, und kauert immer noch am Boden, als zwei schwere Stiefel sich in ihr Sichtfeld stellen und sie zwingen hochzusehen.

      Sie hat einen dünnen, kurzen Mantel aus Teddyfell übergezogen, ein wenig dunkler als ihr Haar, und der Mascara ist nicht mehr verwischt. Sie sieht auf Lux herunter, als sie ihre Tasche vom Sitz nimmt, und Lux hat das Gefühl, dass ihre Gedanken erraten wurden. Sie würde jetzt gerne sagen, dass sie das nicht gemacht hat, zwar drüber nachgedacht hat, aber niemals würde sie in einer fremden Tasche herumwühlen, so etwas macht man nicht, würde sie gerne sagen, das geht zu weit, da dreht sich die andere um und geht ohne ein Wort.

      Als Lux auf der Straße steht und jeden einzelnen ihrer Knochen spürt, wie überfahren, sieht sie sich um, in alle Richtungen dieser überlaufenen Busstation. Aber keine Spur mehr von dem hellen Fell. Als hätte es sie gar nicht gegeben.

      Detroit

      3

      Der protzige Marmorbrunnen sitzt zwischen Rasenflächen, die aussehen, als wären sie mit der Nagelschere gekürzt worden. Die Tatzen der weißen Steinlöwen sind so groß wie Menschenköpfe, und Schildkröten aus Bronze, auf denen noch Erwachsene reiten könnten, kotzen das klare Wasser symmetrisch in die Höhe. Es gibt hier nichts, was die Perfektion stört. Keinen Schmutz, keinen Müll. Woher auch?, denkt Lux. Außer dem schäumenden Wasser bewegt sich hier nichts, keine Spur von Leben, weder Menschen noch Tiere sind hier, um ihren Dreck dazulassen, dieser Park ist die Hölle.

      Lux steht sicher zehn Meter vom Brunnen entfernt und versucht es ein paarmal im Hochformat, aber weder so noch quer passt er auf den Bildschirm.


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