Lux. Olivia Kuderewski

Lux - Olivia Kuderewski


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therapeutischen Gedichten, Überweisungsscheinen, ein dicker, bunter Packen. Das Informationsmaterial aus der Depressionsgruppe: Müll. Der abgegriffene Therapiestundenplan: Müll. Der Brief, den sie an ihr inneres Kind schreiben musste: Sondermüll. Der Befund von der Blutabnahme, die Spannungskurve für die Angstzustände, das Übungsblatt zur progressiven Muskelrelaxans, die Liste mit den Notfall-Skills, die Überweisung aus dem Krankenhaus, die kaum zu fassende Rechnung, die Flyer sämtlicher Krisendienste in der Umgebung: alles Müll. Zwölf Wochen Intensivtherapie, um dann Pillen zu schlucken, denkt sie, und ihr entfährt ein Schnauben, unwillkürlich, ein paar Blätter rutschen von ihrem Schoß auf den Boden, und sie schiebt sie mit dem Fuß von sich weg, zertritt sie unter ihrem Turnschuh.

      Sie hat sich durch die ganze Mappe gewühlt, rückwärts durch drei Monate, als ihr Blick auf eine Frage in dem Papierchaos fällt und sie stutzt: »Meine Warnzeichen für eine nahende Depression sind?«

      Und darunter steht in ihrer eigenen Schrift das Wort »Glocke«.

      Sie hat es nicht mehr benutzt, seit sie rausgekommen ist, dieses Wort. Seit sie diesen dummen Fragebogen ausgefüllt hat, kein einziges Mal hat sie es ausgesprochen, vielleicht gedacht, aber nur flüchtig, eigentlich hat sie es nicht mal richtig gedacht, seit damals auf der Terrasse der Klinik.

      Lux war allein gewesen in der Nacht. Die Zimmergenossin mit den verbundenen Armen, an deren Schnarchen sie sich schon gewöhnt hatte, war weg, »ausgezogen«. Vielleicht konnte Lux deswegen nicht schlafen, das Wegbrechen der Hintergrundgeräusche oder die alte Angst vorm Dunkeln. Vielleicht waren die Scheinwerfer der stillen Krankenwagen, die die ganze Nacht an der Zimmerdecke vorbeifuhren, schuld; oder das Bett, dieses schmale, fremd bleibende Bett, aus dem immer ein Körperteil heraushing. Sie stand auf, ihre Hand griff nach irgendetwas in dem fremden Schrank, in dem sich die Klamotten häuften, etwas weiches Warmes, um auf der Raucherterrasse nicht zu frieren. Eigentlich war das einer der guten Momente. Wenn die ganze Klinik eingeschlafen war bis auf ein paar geisterhafte Schwestern und die Maschinen. Das Schlurfen der Hausschuhe in den leeren Gängen. Das gedimmte Licht, nicht dieses grelle Weiß, mit dem sie einem tagsüber in den Kopf leuchteten. Die schwere Tür zur Terrasse und das Betonquadrat, darüber ein Stück Himmel und manchmal Sterne. »Gefängnishof« nannten das die anderen.

      So stellt man sich das vor, dachte sie, in Hausschuhen, Schlafanzug und riesigen Strickjacken nachts durch die Flure der Klapse schleichen. Wer hat sich diese Strickjacken für verrückte Frauen ausgedacht?, überlegte sie, als sie in den Taschen nach einem Feuer wühlte.

      Sie zog das Feuerzeug heraus, und die Kippe rutschte ihr aus dem Mund.

      Da war es die ganze Zeit. Leons Feuerzeug, ihr Feuerzeug, das mit dem Luchs. Wie lange muss es dadrin gewesen sein?, stotterte es damals in ihren Gedanken. Ihre Hand fing an zu zittern, und damit auch das ernste Gesicht der Katze auf dem Feuer, ein geschecktes Katzengesicht, dem Leon zwei Büschel über den Ohren eingeritzt hatte. »Um die Katze zum Luchs zu machen«, hatte er gesagt, »sie hatten keine Luchs-Feuerzeuge im Sortiment.« Der Dreck der Raucherfinger sammelte sich in den schiefen, weißen Rillen. Und Lux hatte sich selbst gewundert, dass sie diesen dämlichen Witz immer wieder lustig fand, wenn er sie anfauchte, mit einem kratzigen »Ch«, die Finger zu Krallen verbogen. Lux, Luchs – wie das Tier. Es war so bescheuert, dass sie davon jedes Mal Herzklopfen bekam.

      Eine Woche später war er tot.

      Und du hast es doch nicht verloren, dachte sie dort auf der Terrasse, es war die ganze Zeit in dieser hässlichen Jacke, du hast es nicht verloren, nur musstest du erst irre werden, um es wiederzufinden.

      Dann wurde alles unhörbar. Jemand kam nach draußen, um auch zu rauchen, eine Nachtschwester, aber Lux hörte nichts mehr außer einem lauten Rauschen. Sie merkte nur vage, wie diese Person an ihrem Arm rüttelte, alle Kanäle verstopft, Ohropax auch für die Haut, der Mund dieser Person bewegte sich lautlos. Da war Lux schon weg, schon isoliert unter der Glocke, dickwandig, aber durchsichtig, war am Durchdrehen auf engstem Raum, bloß im eigenen Schädel, aber sichtbar für alle anderen.

      Sie zerreißt diesen Zettel. Das Geräusch holt sie in den Bus zurück, macht ihr bewusst, dass sie sich schon wieder schämen könnte für ihre Bemerkbarkeit. Sie stopft die Blätter, die herausgerutscht sind, zurück in die Mappe und versucht, das Ganze in der Mitte durchzureißen, aber es ist zu dick, sie knickt es stattdessen, presst es zusammen. Ihr Blick sucht die Fensterscheiben ab, die sich natürlich nicht öffnen lassen, schon wieder eingesperrt, und sie lässt die Mappe auf den Boden fallen, zwischen ihre Füße, tritt drauf und schiebt sie unter den Sitz, kickt sie mit der Ferse nach hinten, soll sich der Nächste mit ihrer Vergangenheit beschäftigen.

      »Alles in Ordnung bei dir?«

      Der Himmel sieht wirklich aus wie eine Kuppel, sobald keine Stadt mehr in Sicht ist, und die Sonnenuntergangsfarben laufen daran herunter wie über gewölbtes Glas, das ist in Ordnung. Es ist alles so, wie du es dir vorgestellt hast, also ist es in Ordnung, du bist in einer Stadt eingestiegen, um in der nächsten auszusteigen und dir dazwischen den Rausch am Straßenrand durch die Augen laufen zu lassen, um zu kapieren, dass es nichts gibt, woran du dich festhalten brauchst.

      »Ja, alles okay«, tippt Lux und schickt es an Charles.

      Bald verschwindet die Landschaft, und die Scheinwerfer fangen an zu blenden. Sie weiß, wie geisterhaft ihr Gesicht von draußen aussieht. Wie das Licht immer wieder darüberfährt und die Pupillen sich zusammenziehen und weiten, während sie nichts sieht außer der Grenze zwischen Gras und Asphalt, die im Licht des Gegenverkehrs ab und zu auftaucht. Ein farbloses Bild, als wäre alles schwarz-weiß über Nacht. Sterne sind keine da, auch keine mondgesichtigen Kühe. Wenn Lux die Stirn gegen die kühle Scheibe presst, meint sie zu wissen, wie es ist, da draußen zu sein, auf einem Feld in der Nacht, allein. Und wenn sie sich nicht gerade fortbewegen würde, wenn sie nicht wüsste, dass die Straße sie woanders hinträgt, an einen Ort, an dem sie nicht bleiben wird, wäre gar nichts in Ordnung.

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      Es rauscht und ruckelt unter ihr. Lux ist aufgewacht, aber sie lässt die Augen geschlossen. Das Rauschen erinnert sie daran, wo sie ist. Ihr ganzer Körper ist so steif, dass sie sich nicht traut, ihre Position zu verändern, vielleicht bricht dann etwas ab. Während sie geschlafen hat, sind ihre Gliedmaßen im Luftstrom der Klimaanlage vereist. Draußen wird es bald hell, und ihr hängen Fetzen eines Traums nach.

      Leon war da, auf der Zugbrücke bei ihr zu Hause, obwohl er diesen Ort eigentlich nicht kannte. Er spuckte vom Geländer der Brücke auf die fahrenden Züge hinunter und lachte laut, wenn die Spucke kurz vorm Aufprall auf dem Zugdach durch den Luftstrom zur Seite gerissen wurde. Er versuchte, immer mehr Spucke aus sich heraus zu befördern, und ununterbrochen fuhren die Züge, sodass er immer weiter spucken konnte. Aber Lux wurde unruhig, sie war sich sicher, dass das verboten war, sie rüttelte ständig an Leons Arm, um ihm zu sagen, dass sie Ärger kriegen würden, wenn die Spucke auf dem Zug landete, es wären schon mehrere Leute an so was gestorben, sagte sie, aber Leon lachte sie aus, meinte, das wäre »physikalisch unmöglich«. Er könne es ihr beweisen, man käme wegen des Fahrtwindes nie auf dem Zugdach auf. Er beugte sich weit nach vorne, mit dem ganzen Oberkörper über das Geländer und spuckte einen Riesenbatzen, der strack nach unten fiel, und zack, die Spucke wehte zur Seite. »Siehst du, unmöglich!«, rief er durch das laute Zugrauschen hindurch und grinste, aber Lux sah sich panisch um, und plötzlich stand Leon auf dem Geländer, ragte gerade in den Himmel und breitete die Arme aus. Er lachte laut, »physikalisch unmöglich!«, und Lux griff nach seinen Beinen, aber griff nur Luft. Er fiel steif nach unten, gerade wie ein Stock, und drehte sich um die eigene Achse, viel zu lange drehte er sich für diese Strecke, physikalisch unmöglich lange, und der Luftstrom wehte ihm den Hut vom Kopf, aber trieb den Körper nicht zur Seite.

      Ihr Atem beschlägt das Fenster. Lux erkennt den Horizont, der sich langsam aus dem Schwarz heraushebt, und sie sucht die Linie müde ab, aber kann keinen einzigen Baum entdecken.

      Sie streckt die Beine unter den Sitz vor sich aus, am schlimmsten tut der Nacken weh, da stößt sie mit dem Ellbogen an etwas neben sich.

      Zwei große schwarzrandige Tigeraugen starren


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