Der Prinz ist tot - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst
Kein richtiger Winter in den Wintermonaten und jetzt plötzlich dieser Kälteeinbruch Anfang April. Er wagte nicht daran zu denken, was das für die Pflaumen bedeutete. Ganz zu schweigen von dem schmächtigen Pfirsichbaum, der an der Südwand der Terrasse stand. Er hatte ihn im Herbst als Ersatz für den alten gepflanzt, der vor einigen Wintern eingegangen war. Zwar würde ein bisschen Frost ihn nicht umbringen, aber die Blüten hatten bestimmt Schaden genommen. Wenn er überhaupt Früchte trug, würden sie verkrüppelt ausfallen.
Er schüttelte sich leicht. Der Wind war trotz der Sonne kühl. Die Tulpen wussten sicher, was sie taten. Jedenfalls war es zu kalt, hier draußen in Hemdsärmeln herumzulaufen.
Er stand im Schlafzimmer und zog sich gerade einen Pullover über, als er das Auto in die Einfahrt einbiegen hörte. Er sah auf die Uhr. Kurz vor eins und sie hatten ausgemacht, dass sie spätestens um eins fahren wollten. Na schön, auf eine halbe Stunde früher oder später kam es nicht an. Rigmor hatte sich bestimmt in der Arbeit verspätet oder ihr war im letzten Moment noch etwas eingefallen, was sie einkaufen musste.
Er trat genau in dem Moment in die Diele, als sie ein wenig atemlos zur Tür hereinkam.
»Hallo, du Licht meines Lebens, willst du eine Tasse Kaffee?«, fragte Høyer.
»Haben wir noch so viel Zeit?«
»Natürlich. Er ist schon fertig und wir müssen nirgendwo auf die Minute genau ankommen.«
»Dann gieß mir eine Tasse ein, ich will nur eben ...«, sie verschwand im Badezimmer und Høyer ging in die Küche und schenkte ihnen beiden Kaffee ein.
Einen Moment später kam Rigmor und setzte sich ihm gegenüber.
»Ich bin fast mit Packen fertig. Was ist denn mit deinen Sachen?«
Høyer hielt eine kleine Tasche hoch. »Hier ist alles drin.«
Sie guckte ungläubig von ihm zu der Tasche. »Niels, das ist nicht dein Ernst. Da passen nicht einmal deine Toilettensachen rein.«
»Es ist doch nur ein verlängertes Wochenende.«
»Ein verlängertes Wochenende! Wir fahren für fast eine Woche. Und wir ... wir wollen doch essen gehen, nicht wahr? Ich meine, richtig. Und ins Konzert. Du willst doch nicht in dem Aufzug ins Konzert?«
Sie sah so enttäuscht aus, dass er es nicht übers Herz brachte, sie weiter aufzuziehen.
»Doch, ich habe gepackt. Meine Tasche ist im Auto, und ich habe mir erlaubt, meinen Anzug in deinen Koffer zu legen. Das hier ist etwas Spezielles, ein Geschenk für die Frau meines Herzens.«
Er überreichte ihr die kleine Tasche und sie öffnete sie schnell.
»Was ist das?«, fragte sie verwirrt.
Er lachte. »Ein Wasserkocher, den man an den Zigarettenanzünder anschließen kann. An Wasser und Pulverkaffee habe ich auch gedacht. Dich gelüstet doch immer nach Kaffee, wenn wir meilenweit von jeglicher Zivilisation entfernt sind, und dieses Elend halte ich nicht länger aus.«
Sie lachte. »Wir fahren doch nur in ein verlängertes Wochenende. «
»Oh, ich kann mich ganz gut an Sonntagnachmittage am Strand oder in der wilden Heide erinnern, wo dich plötzlich der Kaffeedurst überfallen hat und wir unser ganzes Hab und Gut zusammenpacken und aufbrechen mussten, als wären wir auf der Flucht.«
»Du übertreibst.«
»Ja, aber nicht sehr. Jetzt sind wir jedenfalls auf die Katastrophe vorbereitet.« Er nahm ihr die Tasche ab. »Ich bringe sie ins Auto, sobald wir unseren Kaffee getrunken haben. Warum kommst du übrigens so spät? Ich hatte dich früher erwartet.«
»Das war ein richtig verrückter Tag. Hast du übrigens schon davon gehört? Der Prinz ist erschossen worden!«
»Der Prinz?«, Høyer starrte sie ungläubig und schockiert an. So etwas passierte nur hier zu Lande. »Ach du meine Güte! Welcher?«
Sie sah ihn einen Augenblick lang verständnislos an, dann lachte sie. »Nein, keiner von denen, du Narr. Der Prinz. Der Rocker. Du weißt doch, der von den Red Devils, hießen sie nicht so? Die, die euch so viel Ärger gemacht haben?«
»Sie heißen Blue Devils und ich glaube, Ärger machen sie immer noch, aber allmählich werden sie immer weniger. Sie haben einander auf alle möglichen bizarren Weisen ausgerottet. Der König ist seit Dezember gelähmt. Wo hast du das gehört?«
»Bei der Arbeit. Einer der Postboten hat ihn gefunden. Deshalb konnte ich auch nicht früher kommen. Er kam eine halbe Stunde zu spät von seiner Tour zurück.«
»Er hat ihn gefunden? Wo?«
»Draußen in ihrer Festung. Oder wie man das Gemäuer nun nennen soll. Er hat eine schreckliche Geschichte erzählt, dass er von seinen Hunden angefallen und getötet worden ist.«
»Das klingt ein bisschen weit hergeholt.«
»Ja, zuletzt hieß es, er sei erschossen worden. Das sind alles Gerüchte, aber jedenfalls ist er tot.«
»Das ist vielleicht gar kein Wunder. Der König ist tot oder fast tot, der Krieg um die Thronfolge dürfte also in vollem Gange sein. Nun gut, Friede seiner Asche«, schloss Høyer fromm.
»Wie alt war er?«
»Um die dreißig. Vielleicht ein bisschen älter.«
»Wie furchtbar.«
»Ich werde ihm bestimmt keine Träne nachweinen.«
»Ich habe nicht speziell an ihn gedacht, sondern eher daran, dass es Menschen gibt, die so sind. Und die so enden. Ich meine, das müssen doch einmal ganz normale Jungen gewesen sein und sie müssen Mütter und Väter gehabt haben, die Hoffnungen in sie gesetzt haben. Sich etwas von ihnen erwartet haben. Das ist zum Weinen.«
Høyer zuckte mit den Schultern.
»Es gibt charmante Schurken und es gibt üble Schurken. Der Prinz gehörte zur zweiten Kategorie. Ich kannte ihn, seit er fünfzehn war, und er war ein übler Typ, solange ich zurückdenken kann. Du kennst selbst ein paar der Geschichten. Er hat mindestens einen Mord auf dem Gewissen, selbst wenn sein Anwalt Tötung durch einen Querschläger daraus gemacht hat. Und du erinnerst dich bestimmt an die alte Geschichte mit ... nein, ich mag nicht sein ganzes Sündenregister aufzählen, aber er war einer der wirklich üblen Jungen. In jeder Beziehung. Ich glaube nicht, dass viele Tränen um ihn vergossen werden.«
»Das weiß man nie«, sagte Rigmor. »Es muss doch jemanden geben, der ihn gemocht hat.«
»Er war ein übler Typ«, beharrte Høyer.
6
»Er war ein guter Junge.«
Therkelsen sagte nichts. Er seufzte unhörbar, während er seinen Blick durch das Zimmer wandern ließ. Jede Mutter war wohl der Ansicht, dass ihr Sohn ein guter Junge war.
Es war ein gemütliches Wohnzimmer mit einem Klavier. Darauf standen ein paar Fotografien. Eine zeigte einen Mann um die vierzig und sah wie die Vergrößerung eines Passbilds aus, eine andere zeigte drei Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen, nach dem Alter in einer Reihe aufgestellt. Es gab noch ein Foto desselben Mädchens mit Studentenmütze und zwei Hochzeitsfotos. Doch von Lars, dem Prinzen, gab es keine weiteren Bilder.
Seine Mutter hatte nicht geweint, als Therkelsen ihr mitgeteilt hatte, dass ihr Sohn tot war. Sie hatte ihn nur angesehen und genickt.
»Wollen Sie nicht hereinkommen?«, hatte sie gefragt.
»Erschossen«, sagte sie, als Therkelsen eingetreten war und erzählt hatte, was passiert war. »Im Grunde habe ich wohl schon lange damit gerechnet. Sie finden es vielleicht seltsam, dass ich nicht weine, aber ich habe so viel wegen dieses Jungen geweint, dass alle Tränen verbraucht sind. Auf eine Weise bin ich froh, dass es so geendet hat. Das von einer Mutter zu hören, erwartet man nicht, aber ich habe immer Angst gehabt, dass er eines Tages ... Da ist es schon besser, dass er erschossen worden ist, als dass