Fabian Boll - Das Herz von St. Pauli. Hermann economist Schmidt
Ich bin beruflich stark eingespannt. Natürlich bin ich gerne daheim in Bad Bramstedt und ganz besonders gerne bei meinen Eltern in der Schillerstraße. Mein älterer Bruder Sebastian und ich hatten eine schöne Kindheit. Wir sind sehr behütet aufgewachsen.
Wie spielte sich euer Familienleben in deiner Kindheit ab?
FABIAN BOLL: Das lief bei den Eltern eher so in der klassischen Rollenverteilung, nachdem wir Kinder geboren waren. Große Gesten und unablässiges Betüddeln sind zwar nicht unbedingt charakteristisch im Zusammenleben einer norddeutschen Familie, aber irgendwie war das schon eine Art Nest daheim bei uns. Heile Welt im positiven Sinn. Wir konnten uns in der Familie immer aufeinander verlassen. Mein Vater war mein Vorbild, und meine Mutter backt die beste Quarktorte der Welt.
Und dann zogst du deine Kreise auf den holsteinischen Fußballplätzen?
FABIAN BOLL: Zunächst einmal kannte ich in Bad Bramstedt jeden Baum und jeden Strauch. Heute hat sich vieles verändert. Es ist überall gebaut worden. Manche Plätze in der Stadt sind gar nicht wiederzuerkennen. Aber ich kenne in der näheren Umgebung zwischen Itzehoe, Neumünster, Bad Oldesloe, Bad Segeberg, Norderstedt, Hamburg und Pinneberg wahrscheinlich jeden Fußballplatz in Holstein, weil ich überall schon einmal gespielt habe. Auch diese Sportplätze sind für mich so etwas wie Heimat. Fast jedes Fußballfeld ist für mich mit Erinnerungen an bestimmte Spiele verbunden. Ich finde es eher schade, wenn ich sehe, wie die alten Sportplätze, auf denen ich gespielt habe, nicht mehr existieren. So geht es mir auch mit unserem alten Bolzplatz in der Bad Bramstedter Holsatenallee, neben der BMX-Bahn, wo mittlerweile eine Neubausiedlung entstanden ist. Auf dem Bolzplatz an der Holsatenalle/Ecke Stormarnring gab es nur einen Nachteil: Mitten drauf stand ein Baum. Die Tore waren aus drei Holzlatten zusammengenagelt. Deshalb sind wir manchmal mit dem Rad ins zwei Kilometer entfernte Hitzhusen gefahren. Da gab es einen Bolzplatz mit Aluminiumtoren und Netzen. Später haben wir dort die Sommerabschlussfeste mit meinen Jugendmannschaften der Bramstedter TS gefeiert.
Sicher kennst du in Holstein noch viele Akteure aus deiner Zeit im Jugendfußball. Und viele kennen dich …
FABIAN BOLL: Ja, viele sprechen mich an, wenn ich mal daheim bin. Schließlich hab ich da ja mehr als ein Jahrzehnt gekickt. Auch Menschen, die mich nur aus dem Fernsehen oder der Zeitung kennen. Gelegentlich kommt es vor, dass Jungs aus der Nachbarschaft bei meinen Eltern klingeln und fragen, ob ich zu Hause wäre und ob ich nicht Zeit hätte, ein bisschen Fußball mit ihnen zu spielen. Außerdem treffe ich bei Test- und Freundschaftsspielen vor der Saison, wenn wir über die Dörfer tingeln, immer mal wieder Spieler, mit denen oder gegen die ich früher mal als Amateur gespielt habe. Das ist dann wie eine kleine Zeitreise.
Was verbindest du mit dem Begriff „Heimat“?
FABIAN BOLL: Heimat ist für mich „Sich-aufgehoben-Fühlen“. Daheim bin ich da, wo ich vertraut mit anderen bin. Ich finde es gut, dass meine Landsleute meist unkompliziert und geradlinig sind. Wenn ich daheim bin, geht es mir gut. Ich habe lange Zeit Schwierigkeiten damit gehabt, mich an Neues, an Veränderungen zu gewöhnen.
Und was ist mit der Heimat Millerntor?
FABIAN BOLL: Das Millerntor gehört zu meiner Heimat, seit ich Fan des FC St. Pauli bin. Doch das ist eine andere Geschichte, über die wir noch reden sollten.
Kapitel 2
Von Bad Bramstedt ans Millerntor
Wer die A7 von Hamburg aus nach Norden fährt, kommt nach einer halben Stunde an der Autobahnausfahrt Bad Bramstedt vorbei. Der Tourist reist weiter durch die schier endlose norddeutsche Tiefebene, kein Wald, keine Hügel, alles flach, manchmal Bäume und Sträucher, eine karge Landschaft, die fast verlassen wirkt. In den Wiesen und hinter den Feldern ducken sich Höfe im fahlen Licht der Sonne, die hier oft genug nicht ihren stärksten Tag hat.
„North to Alaska!“, wie es Johnny Horton besingt, so könnte der Reisende sich unterwegs wähnen, denn gleich hinter Bad Bramstedt beginnen für alle Bewohner der südlichen Bundesländer bereits die Polargebiete. Nur der Kurgast, den das Rheuma plagt, oder der einheimische Holsteiner, eine ganz besondere Spezies des nordischen Menschen, biegen hier rechts von der Autobahn ab. Hier und da am Rande der Straße, auf dem Weg in die Heimat des Fabian Boll, lichter Wald, dann immer geradeaus nach Westen, und alsbald passiert man das Ortsschild des holsteinischen Kurstädtchens Bad Bramstedt, das inmitten von Feldern und Auen am historischen Ochsenweg, einer alten Handelsstraße, liegt.
Bis zum Bau der A7 im Jahr 1972 war die Bundesstraße 4 die wichtigste Verbindung zwischen Hamburg und Kiel – im Sommer der Zubringer für viele Ost- und Nordseebäder in Schleswig-Holstein. Damals wie heute lebte Bad Bramstedt von Touristen, vom Kurbetrieb und vom Durchgangsverkehr. Den größten Anteil der Stadtverordneten in der Kommune stellt die CDU, gefolgt von SPD, FDP und Grünen, ganz so, wie das seit eh und je im beschaulichen, konservativ geprägten Holstein der Fall war. Die holsteinische Kleinstadt liegt am westlichen Rand der norddeutschen Marschlandschaft, genau dort, wo im Zusammenfluss von Osterau und Hudau die Bramau entsteht. In einer knappen Stunde ist man mit dem Auto in der nahen Großstadt Hamburg, und doch wirkt der Ort im Herzen von Schleswig-Holstein wie ein Relikt aus einer beschaulicheren Zeit.
In langen, meist nasskalten Wintern trotzen die Häuser dem immerwährenden Wind und Regen, der meist von Nordwesten kommt. Nur wenn die schönste Jahreszeit, der Frühling, die norddeutschen Menschen aus den Häusern gelockt hat, könnte man sich vorstellen, hier für immer daheim zu sein. Und wenn der Sommer nicht, wie in manchem norddeutschen Jahr, einfach ausbleibt, brütet die Sommerhitze über den Straßen und Dächern der Stadt. Dann gehen Kinder und Jugendliche von morgens bis abends in die Schwimmbäder, die den Charme der sechziger Jahre haben und den gemalten Bildern auf den ersten Seiten einer Schulfibel ähneln. Die Erwachsenen grillen in den Vorgärten, sobald die ersten warmen Sonnenstrahlen den kurzen Sommer ankündigen, und vor den Cafés und im Biergarten des Hotels am Marktplatz sitzen die Pärchen und genießen die wenigen warmen Abende so, als lebe man irgendwo im Süden der Republik.
In Bad Bramstedt ist die Welt noch in Ordnung. Meistens jedenfalls. Bad Bramstedt ist die nördlichste „Roland“-Stadt in Deutschland. Der als Denkmal aufgestellte, etwas traurig dreinschauende Krieger trägt im blau unterlegten Stadtwappen goldene Schuhe und in der rechten Hand ein aufgerichtetes Schwert. Dieser wackere Kämpfer könnte als Symbol genauso gut für einen anderen großen und weit jüngeren Sohn der Stadt stehen, der hier aufgewachsen ist und der es in den letzten Jahren zu Ruhm und Ansehen für sich selbst und damit auch für seine Heimatstadt Bad Bramstedt gebracht hat.
Fabian Boll ist neben dem Abenteurer, Segler und Polarforscher Arved Fuchs, der 1953 in Bad Bramstedt zur Welt kam, der derzeit populärste Prominente aus der holsteinischen Kurstadt und wahrscheinlich einer der besten Fußballer, die im „schönsten Bundesland der Welt“ geboren wurden. Fabian Boll weist allerdings darauf hin, dass auch der Modedesigner Karl Lagerfeld in Bad Bramstedt zur Schule gegangen sei.
In Schleswig-Holstein waren und sind begnadete Fußballer eher eine Ausnahme. Gute Handballer, die gab es im nördlichsten Bundesland schon immer wie Sand am Meer. Gerade mal eine einzige Elf ließe sich dagegen aus schleswig-holsteinischen Fußballspielern bilden, die seit Beginn des letzten Jahrhunderts den Sprung in die A-Nationalmannschaft geschafft haben. Vom Kieler Nationaltorhüter Andy Köpke, vom aus Lübeck kommenden Peter Nogly und dem vom Heider SV stammenden Mittelläufer Willi Gerdau, dessen beste Zeit die fünfziger Jahre waren, einmal abgesehen, gehören alle diese Spieler in die Ära des ersten Drittels im vorigen Jahrhundert: Das war die große Zeit der berühmten Kieler „Störche“. Mit Ausnahme von Willi Gerdau haben alle schleswig-holsteinischen Nationalspieler bei Holstein Kiel gespielt. In den Jahren 1910 und 1930 wurden die Störche deutscher Vizemeister, im Jahr 1912 gar Deutscher Meister. August und Adsch Werner, Oskar Ritter, Walter Krause, Hans Reese, Karl Schulz, Franz Esser, Willi Fick, Johannes Ludwig, Werner Widmayer: Namen, die kaum noch jemand kennt.
Sicher: Es gab auch noch Peter Kaack, einen bärenstarken Defensivspieler vom VfR Neumünster, der zur Braunschweiger Eintracht ging, 299 Bundesligaspiele absolvierte und vielen Fußballspezialisten früherer Jahre wegen mehrerer unglücklicher, aber spektakulärer Eigentore