Sara Z., verschwunden. Pirmin Müller
und Restaurant, zu den Müttern mit ihren Kinderwagen. «Er hat ja nie über seine Ermittlungen geredet. Jetzt denke ich, es hat seine Persönlichkeit entzweit. Als wären wir zusammen auf einem Schiff gewesen, und zur Arbeit wäre er an Land gegangen.»
«Hat er von Sara gesprochen?», fragte Rahel.
«Über deine Schwester hat er viel geredet, wie die ganze Stadt. Es hat ihn mitgenommen, auch die Anfeindungen.»
Rahel deutete mit dem Finger unauffällig auf die anderen Gäste und tippte sich ans Ohr. Dorothea verstand, wechselte das Thema und trank den Tee zu Ende.
Es folgte das Zeremoniell des Rechnungbegleichens in Szenerestaurants: Geldschein in die Höhe halten, winken, rufen, kaum sichtbare Gesten als positive Zeichen deuten. Warten, bis der Kellner die Zeit für gekommen hält. Dorothea zahlte die Essen, Rahel übernahm die Getränke. Auf seinen tadelnden Blick hin schoben sie Trinkgeld nach, traten unter dem Sonnensegel hervor und atmeten durch. Rahel zündete sich eine Zigarette an.
«Übrigens», sagte sie zwischen zwei Zügen, «ich bin in die Sicherheitskommission nachnominiert worden. Stell dir vor, kaum im Gemeinderat, schon in einer Kommission. Heute Abend ist die erste Sitzung.»
«Ah ja», Dorothea zog eine Augenbraue hoch.
«Pia van Eick, meine Vorgängerin, ist ausgewandert. Nach Bolivien, Biolandbau. In Wahrheit sei es Liebe gewesen, ein Musiker, den sie an einem Festival kennengelernt habe. Die Gute sei jedenfalls nicht mehr zu halten gewesen.»
Auf Rahels Schreibtisch türmten sich die Akten in beeindruckende Höhen. Eine Machtdemonstration der direkten Demokratie, vor der sich Rahel klein und unwissend fühlte. Sie stand auf, stieg die Treppe hinunter und trat auf die Veranda vor der Küche. Eine Amsel sammelte in einem Gestrüpp Ästchen für den Nestbau. Vorbildlich, dachte Rahel. Das macht wenigstens Sinn.
Der Papierstapel lag genauso da wie vor der Pause. Sie las sich quer durch die Seiten, Vorfälle bei der Polizei, alles längst bekannt. Mehr Personal und Mittel wurden verlangt, um den ständig wachsenden Herausforderungen zu begegnen.
Schreibt doch gleich, dass es ums Geld geht.
Sie überflog den zugehörigen Rapport: Polizist A auf Streife mit Polizist B, auffälligen Eritreer beim Bahnhof festgehalten, Einmischung der Umstehenden, die Situation eskalierte. Einsatz von Pfefferspray, Ruhigstellung des Verdächtigen, worauf dieser mit Kopfverletzungen ins Spital gebracht werden musste.
Unschön, doch nicht der Rede wert, hätte es nicht ein Jugendlicher gefilmt und auf Instagram gepostet.
Nichts hat sich geändert, dachte Rahel. Dieselben Personen kontrollieren die Stadt. Neugewählte fügen sich ein und vergessen die Missstände, die sie im Wahlkampf angeprangert hatten. Es war ein Fehler gewesen, sich auf die Wahlliste setzen zu lassen. Ein Missgeschick.
Eine Fliege schwirrte über den Tisch und hielt auf einem Bleistift inne. Von dort flog sie weiter ans Fenster, wo sie auf einer Querstrebe verharrte.
Das Handy summte, eine unbekannte Nummer. Rahel erwachte aus ihren Gedanken.
«Ja, bitte.»
Ein schnellsprechender Verkäufer empfahl sich für günstige Abonnements von Frauenzeitschriften. Noch günstiger bei Abschluss jetzt gleich am Telefon.
«Nein, danke», sagte sie freundlich und hängte auf. Oben in der Altstadt schlugen die Glocken der Kirche vier Uhr. Sie kämpfte sich weiter durch das Gewirr der Worte. Als sie das letzte Blatt beiseiteschob, hatte sie vergessen, was sie eben gelesen hatte. Als wäre die Schnur der Erinnerung gerissen, die Gedächtnisfolge auseinandergefallen. Rahel wusste, dass es mit der Belastung durch Ungewohntes – der ersten Kommissionssitzung – zusammenhing, dass es vorübergehen würde, und dass es sich um eine zeitweilige Einschränkung handelte, mit der es sich leben liess. Nichts Bedrohliches.
3. Die Kommission
Ausser der Stadtpräsidentin Verena Grunder-Koch, die von Amtes wegen Einsitz hatte, war Rahel die einzige Frau in der Sicherheitskommission. Sechs Herren, ein Sozialdemokrat und fünf Bürgerliche, standen im Sitzungszimmer 2a, ovaler Nussbaumtisch, herrlicher Ausblick auf die Jurakette. Die Begrüssung: luftiges Küsschen hier, stählerner Händedruck dort, bei Parteifreunden verbunden mit Schulter- und Rückenklopfen. Austausch der üblichen Belanglosigkeiten, danach das routinierte Platzieren der Akten und Rechner – Vorbereitungshandlungen für einen langen Sitzungsabend. Mineralwasser mit und ohne Kohlensäure stand auf dem Tisch bereit, in Keramikschälchen lockten Lindor-Kugeln. Die Temperatur war angenehm, die neue Belüftungsanlage bewährte sich, was inzwischen auch die grössten Sparfüchse im Gemeinderat anerkannten.
Trotz der lockeren Attitude wirkten die Herren verschlossen wie Burgen, ganz im Gegensatz zur Stadtpräsidentin, die Rahel den Platz neben sich zuwies und sich nach ihrem Befinden erkundigte.
«Sehr freundlich. Danke, es geht.»
«Als Präsidentin sitze ich oben am Tisch. Es gibt keine festgeschriebene Sitzordnung, allerdings sitzen die Herren stur am selben Platz. Wahrscheinlich nennen sie es prinzipientreu. Oder standhaft.»
Rahel lächelte, die Anspannung (ihre eigene und die der andern, die sich auf sie übertragen hatte) wich aus Nacken und Brust. Der Raum kam ihr luftiger vor, die Kommissionsmitglieder weniger gewichtig.
Der Protokollführer schloss die Tür, die Traktanden wurden eröffnet, der Polizeichef auf zwanzig Uhr angekündigt.
Stadtrat Gregor Häusermann, seit vier Legislaturen Vorsteher Departement Sicherheit und Verkehr, drückte die Fingerspitzen gegeneinander. Im trockenen Ton eines müde gewordenen Politikers mahnte er Disziplin an. Ihm gegenüber sass Parteikollege Schornfeger, so unbedeutend wie sich selbst überschätzend, der sich einer Karriere zwischen Parteilinie und Verschwörungstheorien entlanghangelte. Mit seinen engstehenden Augen, dem bohrenden Blick und dem schütteren Haar, dem er neuerdings einen getrimmten Bart gegenüberstellte, hatte er nichts Gewinnendes an sich. Nichtsdestotrotz sah er sich als Häusermanns Nachfolger.
Zwei Herren erzählten sich Geschichten von den Schulreisen ihrer Kinder.
Häusermann schlug die Beine übereinander und wartete. Mit kühlem Blick besah er die Runde und schätzte den Ausgang der Sitzung ab. Er war sich sicher: Die Polizei kommt mit einem Verweis davon, keine weiteren Untersuchungen, keine personellen Konsequenzen. Für einen Eritreer lehnten sich nicht mal die Linken aus dem Fenster. Selbst wenn die Aufnahmen der Polizeigewalt für Empörung gesorgt hatten: Die Männer, die am Bahnhof herumhingen, waren einfach zu unbeliebt. Ausserdem war unklar, weshalb sie geflohen waren – es sei in dem Land gar nicht schlimm, berichteten gewisse Politiker, die dort auf Staatsbesuch gewesen waren. Selbst der schöne Arno Hendrick, Sozialdemokrat und Kolumnenschreiber in verschiedenen Lokalzeitungen, hatte vorgängig versichert, es gebe von seiner Seite keinen Widerstand. Seine Fraktion stehe hinter ihm.
Häusermann nickte ihm zu.
Hendrick musterte ihn kurz, mit einer leicht schiefen Kopfhaltung deutete er ebenfalls ein Nicken an.
Stadtpräsidentin Grunder-Koch flüsterte mit Rahel, irgendetwas Aufmunterndes, jedenfalls grinsten sie sich zu.
Häusermann liess sie gewähren. Jeder hier kannte die Geschichte der Zeittlingers, wusste, was die Familie nach Saras Verschwinden durchgemacht hatte. Damals, im zweitletzten Sommer vor dem Jahrtausendwechsel. Er war Fraktionspräsident gewesen, besass rhetorisches Talent, Stil und Charisma. Vor ihm lag, da waren sich alle einig, eine brillante Karriere. Frisch geschieden und ebenso frisch verliebt. Einen Liebhaber in Lausanne, von dem niemand wusste.
In jenem Sommer lagen grosse Gefühle in der Luft. Die Welt offen und frei, die Ideologien des kalten Krieges versenkt, die Zukunft ein Zusammenspiel aus Kreativität, Technologie und Toleranz.
Die Tragödie hatte am Donnerstag, dem 17. Juni 1998, begonnen. Nach einem heissen Tag türmten sich über dem Jura Gewitterwolken auf, es blitzte in der Ferne, einzelne Böen schafften es bis in die Stadt. Es blieb trocken. Die Altstadt voll mit Menschen,