Sara Z., verschwunden. Pirmin Müller
atmete aus und wartete, bis sie innerlich ruhig wurde. Sie stellte sich den schleichenden Löwen auf dem Felsen vor, öffnete die Augen und richtete sich für die Arbeit ein: Papier, Pinsel, Tusche – alles sorgfältig auf dem Tisch angeordnet.
Gegen zwölf Uhr überprüfte sie ihr Werk aus verschiedenen Perspektiven und kam zur Überzeugung, dass der Löwe geschmeidig und gefährlich lauerte. Etwas Kraftvolles hatte Dorothea gewünscht, ein Kunstwerk, keine biedere Einladung zu einem fünfundvierzigsten Hochzeitstag.
Rahel nahm ihr Handy und schrieb Dorothea, dass die Einladung fertig sei.
«Das freut mich», antwortete Dorothea per SMS. «Darf ich vorbeikommen und das Werk begutachten?»
«Gerne. Um zwei Uhr?»
«Ausgezeichnet. Ich bringe frische Erdbeeren mit Schlagrahm.»
Sie reinigte die Malutensilien und räumte den Arbeitsplatz auf. Danach gönnte sie sich einen Kaffee und setzte sich auf der Veranda in den Schatten. Auf dem Display ihres Handys erschienen drei neue Nachrichten. Eine Sprachmitteilung von Marek: «Ich liebe dich. Mit dem Festival bin ich bald am Ende, und mit den Nerven auch.»
Die Werbemail eines Kulturveranstalters – «Die Zirkuswoche steht vor der Tür! Nicht verpassen!» – schien ihr unbeholfen betitelt, doch das Programm sah vielversprechend aus.
Die dritte Nachricht war von Margot, der umtriebigen Fraktionspräsidentin, die um eine Auskunft bezüglich der Kommissionssitzung bat.
Rahel legte das Gerät auf die Fensterbank und zündete sich eine Zigarette an.
Eins nach dem andern, dachte sie und fragte sich, weshalb sie sich bloss für die Politik hatte überreden lassen. Es war ein Fehler gewesen, sich auf die Wahlliste der Grünen setzen zu lassen. Selbst auf den letzten Listenplatz, mit so gut wie keiner Wahlchance, wie Margot versichert hatte.
Rahel wurde trotzdem ins Stadtparlament gewählt (obschon sie politisch nichts geleistet hatte, ausser am Parteistand den Passanten das Programm aufzusagen). Doch Rahel war keine gewöhnliche Kandidatin. Sie war die Schwester von Sara Zeittlinger, deren Schicksal jede und jeden in der Stadt beschäftigt und mitgenommen hatte. Sie war die Überlebende, die daran erinnerte, dass der Mörder nicht gefasst wurde, dass es durchaus einer von hier sein könnte.
Dorothea Schulzes Kopfbedeckung war dezenter als die gestrige: ein schlichter Strohhut mit Stoffband. Sie setzten sich an den Gartentisch, Dorothea schlug die Beine übereinander und zündete sich genüsslich eine Zigarette an. «Wenigstens bei dir darf ich noch Mensch sein. Es ist schrecklich, wie sich die Welt entwickelt. Alle nüchtern, aber dumm wie Stroh.»
«Erst die Erdbeeren oder die Zeichnungen?», fragte Rahel.
«Weisst du, meine Gute, den Löwen habe ich gestern gesehen. Ich bin sicher, dass er heute noch schöner schleicht.»
«Den Schriftzug hast du noch nicht gesehen.»
«Kalligraphie beherrscht niemand wie du. Es wird wunderbar werden. Ich weiss es.»
«Also die Erdbeeren?»
Auch auf die Früchte verspürte Dorothea wenig Lust.
«Lieber noch ein Zigarettchen. Wenn du etwas Wasser bringen könntest?»
Rahel brachte einen Krug Wasser und zwei Gläser. Sie schlug ebenfalls die Beine übereinander und zündete sich keine Zigarette an.
«Netter Rock, hübsches Grün, steht dir gut.»
8. Otto
Rahel bedankte sich für das Kompliment und fragte nach dem wirklichen Grund des Besuchs. Und im Übrigen gefalle ihr, dass sie, Dorothea, keinerlei Begabung als Schauspielerin und auch kein Talent zur Lüge habe.
«Findest du?», entgegnete Dorothea, zog an der Zigarette, blies einen Rauchkringel aus, dem sie bei der Auflösung in der warmen Luft zusah. Mir derselben Ruhe betrachtete sie Rahels Gesicht.
«Sprich es aus.» Rahel kannte diese besorgten Blicke nur zu gut.
«Otto spricht von früher. Es zieht ihn wieder hinein, er spürt diesen Sog, der von der Unerklärlichkeit des Falls ausgeht. Er sagt, Saras Kleider hätten nicht länger als ein paar Monate in dieser Hütte gelegen. Der Täter habe eine Spur gelegt, um Interesse zu wecken. Er wolle beachtet werden – Otto ist überzeugt, dass er den Verlauf genauestens verfolgt und dass er aus der Gegend sei. Es müsse eine Verbindung geben, die nicht weiterverfolgt wurde.»
Rahel wartete, ob ihre Freundin weitersprechen würde, erhob sich und strich den Rock glatt.
«Das sind keine neuen Gedanken», antwortete sie leise und nahm den halbvollen Krug, um ihn mit frischem Wasser aufzufüllen.
Dorothea erhob sich ebenfalls, rückte die Bluse zurecht und folgte ihr in die Küche.
«Ich glaube, liebe Rahel, es ist Zeit für ein Dessert.»
«Das sehe ich auch so.»
Dorothea kippte die Erdbeeren in ein Abtropfsieb und reinigte sie unter dem Wasserhahn. Sie plauderte über eine Reise nach Mexiko, die sie gerne buchen würde. Jedoch sei das mit Otto nicht mehr so einfach, er sei ortsgebunden und ängstlicher als früher, was sie verstehe, aber trotzdem schade fände. Und eben: Dieser Fall beschäftige ihn, er habe vor der Pension Teile der Akten kopiert, die er jetzt regelmässig studiere. Er würde es gerne noch einmal versuchen.
Rahel schnitt die Beeren in vier Teile und legte sie in eine Glasschüssel. Sie sammelte die Stiele ein, einen nach dem anderen, als sei sie in die Arbeit vertieft und höre gar nicht hin.
«Nach zwanzig Jahren?», fragte sie schliesslich.
«Ich möchte ihm diese Chance geben. Bevor sein Geist sich von dieser Welt verabschiedet», erwiderte Dorothea. «Damit er seinen Frieden findet.»
Rahel trocknete die Hände ab und wischte eine Strähne hinters Ohr. «Damit Otto seinen Frieden findet. Darum geht es dir?»
«Ich dachte an einen freiberuflichen Ermittler.»
«Wenn es dir so viel bedeutet: Mach es. Ich stehe nicht im Weg.» Sie widmete sich wieder den Erdbeeren und fügte beiläufig an, dass der Täter sowieso nie gefunden werde und es für sie auch nicht mehr wichtig sei. «Die Zukunft zählt, Lena, Marek. Der Teil meines Lebens, der verschont geblieben ist, der kleine Rest. Ich will nichts mehr hören von Verdächtigen, Spuren und neuen Hinweisen. Keine Worte mehr, die Hoffnung entfachen, nur um mich anschliessend noch einsamer zurückzulassen. Sogar wenn er von hier wäre, niemand wird ihn finden, niemand wird je wissen, was Sara erlebt hat, bevor sie starb.»
Wütend schlug sie den Rahm über die Erdbeeren, den Löffel schmiss sie in die Spüle.
«Entschuldige.» Dorotheas Hände suchten Halt an einer Stuhllehne. «Wenn es so ist, dann lassen wir es.»
«Nein. Wir lassen es nicht», fiel ihr Rahel ins Wort. «Nein. Auf keinen Fall. Ich will wissen, wer es war. Er darf nicht davonkommen. Er muss ein Gesicht bekommen. Damit dieser Wahnsinn einmal ein Ende hat – nicht nur für uns.»
Dorothea nahm sie in den Arm.
«Essen wir die verdammten Erdbeeren.» Rahels Stimme zitterte. «Die müssen weg.»
«Die können warten», antwortete Dorothea und hielt die weinende Rahel wie die Tochter, die sie nie hatte.
9. Dorothea
Dorothea blieb länger als beabsichtigt bei Rahel. Sie sassen im Garten, unterhielten sich über Belanglosigkeiten wie die neuen E-Zigaretten – «die gibt es jetzt mit Geschmack, aber gesünder sind sie nicht, alles gelogen» – und über die Zustände in der grossen Welt und der kleinen Stadt. Dorothea, nun ganz im Element, zeterte über die grassierende Feigheit (mit anschaulichen Beispielen aus ihrem Bekanntenkreis) und verlor sich in ihrem Lieblingsthema: der schandhaften