Sara Z., verschwunden. Pirmin Müller

Sara Z., verschwunden - Pirmin Müller


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sich den hiesigen Stadtplanern meilenweit überlegen.

      «Hätten diese Herren auf mich gehört, die Stadt wäre nicht zu einem Agglomerationsdesaster mit verklemmter Altstadt verkommen. Ich hätte das Potenzial genutzt.»

      In Gesellschaft erzählte sie gerne, dass sie detaillierte Pläne präsentiert habe, nur sei sie als Frau mit Fachwissen unerwünscht gewesen. Wie eine Plage sei sie behandelt worden von den Männern mit ihrer gottgegebenen geglaubten Überlegenheit. Ideen von Frauen: bitte, gerne, aber nur im Bett. So sei das gewesen im Land der kalten Krieger.

      Dabei hatte ihre Karriere vielversprechend begonnen: Nach ihrem Studium hatte sie sich mit der Restaurierung von historischen Park- und Gartenanlagen einen Namen gemacht. Zu ihren Kunden zählten sowohl Patrizierfamilien als auch Neureiche, die sich vorgeblich einen Lebenstraum erfüllten, tatsächlich jedoch bloss ihren sozialen Aufstieg mit alten Gemäuern zu verewigen suchten.

      Den eigenen, adligen Stammbaum wusste Dorothea hierfür gut zu vermarkten – er verlieh ihr eine Aura von Autorität und altem Wissen, als wäre sie vor Hunderten von Jahren selbst in diesen Gärten gewandelt. Sie entstammte den von Landenbergs, einem einfachen Adelsgeschlecht aus der Gegend von Mannheim, das sich vor Generationen in die Berner Patrizierfamilien eingeheiratet hatte. Eine Verbindung, die sich zu beidseitigem Vorteil entwickelte, mit einer frühen Blütezeit, einem Niedergang bei der Abschaffung der Aristokratie und einem erneuten Aufschwung nach der Festigung der Demokratie.

      «Eine von mir gestaltete Anlage spielt mit allen Sinnen», pflegte Dorothea ihren Kunden zu sagen. «Nur wenn sich die Elemente Erde, Wasser, Licht und Wärme darin wiederfinden, erwacht diese Lebendigkeit auch in den Menschen, die sich darin aufhalten. Ein gesunder Park wächst über Generationen; er bildet den Keim für künftige Lebensräume, für die Zeit nach dem Raubbau. Er ist ein Versprechen an eine gemeinsame Zukunft.»

       10. Dorothea

      Mit dreiundzwanzig Jahren heiratete Dorothea einen französischen Hochstapler adligen Geblüts, den sie zwei Jahre später mit gebrochenem Herzen zum Teufel jagte (Aristokratie hat erwiesenermassen den Hang zu exaltierter Lebensführung).

      Am Donnerstag, dem 7. September 1972, ihrem dreissigsten Geburtstag, wurde sie als Zeugin eines Einbruchs vorgeladen. Da sie als arrogant galt, schob man den Fall dem aufstrebenden Schulze zu. Die Einvernahme war kurz, das anschliessende Treffen lang, und seitdem hielt die Liaison gegen alle Widerstände.

      Ihre Eltern waren strikt gegen die Heirat mit einem Mann weit unter ihrem Stand gewesen – «Schulze! Dieser Name, schrecklich!». Erst nachdem Dorothea klargestellt hatte, dass sie ihn heiraten werde und sie eher mit der Familie als mit ihm breche, wurde er eingeladen.

      Eine Woche später standen sie im Wohnzimmer vor dem Familientisch. Über einer Kommode hing das düstere Gemälde des Stammvaters. Otto wurde gebeten, sich zu setzen. Dorotheas Vater stellte allgemeine Fragen zu Tagesthemen, die Antworten wurden stumm zur Kenntnis genommen. Frage um Frage folgte. Otto wurde verhört nach den strikten Regeln argwöhnischer Eltern, die um Ruf und Tochter fürchten. Er bestand mit Bravour. Seinem gemütlichen Charme, der so gar nichts Preussisches hatte, erlag der Vater sofort und die Mutter nach einer halben Stunde. Dass er mit beiden Beinen im Beruf stand, tat das Seinige – einzig die rundliche Statur fand die Mutter nicht angebracht, hielt sich aber mit ihrem Urteil zurück, denn insgeheim gefiel ihr das ungewöhnliche Paar. «Immerhin», sagte sie anschliessend zu ihrem Mann, «ist er kein Spross eines krummbeinigen Bauern. Es hätte schlimmer kommen können.»

      Die Hochzeitsfeier fand auf dem Landgut Eichenau bei Bern statt. Geladen waren dreihundert Gäste, es erschienen dreihundertfünfzig, ein rauschendes Fest mit Ansprachen von Herren von altem Schrot und Korn, Goethe wurde zitiert und Novalis, das Bläserensemble spielte gross auf. Es wurde getrunken und getanzt und in den Gemächern des Hauses der Liebe gefrönt. Die Feier dauerte, bis sich am Horizont die Sonne erhob. Dorothea schlief auf einem Stuhl, glücklich und mit einem Dutzend Aufträgen für ihre Firma. Otto sass mit ein paar Neuverwandten auf der Treppe. Einer, Lukas hiess er, verkündete lallend, er gehe nach Indien, zu den Tigern, die werde er schützen vor den Geiern.

      «Schick mir eine Karte», sagte Otto und legte den Arm um den neuen Freund, «so von Tiger zu Tiger.»

      Die Neuverwandten grölten.

      Doch die Karte kam. Seither hängt sie über dem Klavier, das im Wohnzimmer steht, aber kaum je benutzt wird. Die schleichende bengalische Raubkatze vergilbte mit dem Wechsel der Jahreszeiten, der wache Ausdruck blieb, bis auch der irgendwann zu verblassen begann. Daher wünschte sich Dorothea einen Löwen auf der Einladung (ob Löwe oder Tiger machte für sie keinen Unterschied: Afrika lag ihr näher als Asien, und Katze bleibt Katze.)

      Dorothea zündete sich eine weitere Zigarette an.

      «Zur Feier deiner herrlich gemalten Karte. Sagt man eigentlich gemalt oder gezeichnet?»

      «Japanische Tuschzeichnung. Kalligraphie ist die Kunst des schönen Schreibens.»

      Dorothea blies den Rauch aus, ein trockener Husten folgte. Sie fluchte und gestand, dass sie morgens beim Aufstehen röchle wie ein asthmatisches Pferd. Aber das komme nicht vom Nikotin. Husten habe es schon immer gegeben – wie der Klimawandel auch nur ein Röcheln der Erde sei. Rahel blickte sie skeptisch an.

      «Meine Gute, das war sarkastisch gemeint. Mit meinen Ausreden verhalte ich mich doch wie eine Klimalügnerin.»

      «Sagt dein Mann, nicht wahr?», fragte Rahel, während ihr Smartphone brummte.

      «Sagt mein allwissender Otto. Korrekt. Recht hat er, doch schweigen sollte er.»

      Sie lehnte sich zurück und beobachtete Rahel, die die Nachricht las und eine Antwort tippte. Ob sie die Idee des Privatermittlers noch einmal ansprechen sollte? Rahel hatte als Einzige die Tragödie überstanden – die Ungewissheit, die Medienjagd, die Spinner, die zu wissen glaubten, was mit Sara geschah. Die Frömmler, die im Stadtpark für sie und Sara beteten. Die Freunde, die nach und nach auf Distanz gingen.

      Wie von fern vernahm sie Rahels ruhige, leise Stimme.

      «Wenn es für Otto gut ist, dann engagiere ihn. Auf einen mehr, der den Helden spielen will, kommt es nun wirklich nicht mehr an.»

      «Er heisst Firmin Blanc, wohnt in Biel, ein ehemaliger Polizist aus Besançon. Wir überstürzen nichts und entscheiden gemeinsam. Du und ich.»

      «Einverstanden«, antwortete Rahel. «Wir laden ihn an deine Feier ein und prüfen, wie er sich verhält, was er trinkt und wie viel, ob er Kontakt aufnimmt. Er könnte sich ein Bild von unseren kompetenten Politikern machen, in der grossen Gesellschaft fällt er ja nicht weiter auf.»

      «Ich lade die Stadträte ein», meinte Dorothea, «und einen Teil der Gemeinderäte, zumindest die der Kommission für Sicherheit.»

      «Ich werde diesen Firmin im Auge behalten. Dann habe ich eine Aufgabe und fühle mich nicht einsam.»

       11. Disput

      Die Aare floss gemächlich unter der Fussgängerbrücke durch, hinter dem Stützpfeiler der Brücke träge Strudel bildend. Dorothea besah die ausladenden Bäume. Eine der alten Eschen war krank, ihre Blätter braun, die Krone bereits kahl. Was für ein trauriger Anblick. Jeden Sturm hatte sie überstanden, jede Sommerhitze, nun erlag sie diesem aus Ostasien eingeschleppten Pilz. Ihre beschwingt-sommerliche Stimmung verflog.

      Die Wohnung lag am gegenüberliegenden Hang, im zweiten Haus einer Reihe dreistöckiger Herrenhäuser, die nach und nach abgerissen und durch kubische Betonbauten ersetzt wurden. Sie dachte an die Vorbereitungen für das Fest im September, und sie dachte an Rahel, die sich ihr Leben zurückeroberte, nach den schlimmen Jahren in Freiburg, den Panikattacken, die vollkommen die Kontrolle über sie gewonnen hatten.

      Wäre Rahel eine Landschaft – Dorothea verglich von Berufs wegen gerne Menschen mit Landschaften, Gerüchen und Witterungen –, sie wäre ein Waldrand, der in eine steinige,


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