Sara Z., verschwunden. Pirmin Müller
ihre Jugend und das bevorstehende Baden in den Nebenarmen der Aare, das unvergleichliche sich Treibenlassen im Flusswasser. Rahel hatte getrunken, Wein und Wodka. Sara mochte keinen Alkohol, ihr widerstrebte der Geschmack. An diesem Abend trank sie trotzdem drei Gläser Wein. Kurz nach Mitternacht verabschiedeten sich die Schwestern von ihren Freunden. Unterhalb des Kirchplatzes, auf der Treppe, die in die Allmend abging, blieb Sara stehen. Sie las eine SMS auf ihrem Nokia und stellte dabei fest, dass sie ihren Armreif liegen gelassen hatte.
«Sicher auf dem Rasen», meinte sie.
«Es gibt bestimmt noch einen anderen Grund», entgegnete Rahel.
Sara habe daraufhin gelacht, gab Rahel später zu Protokoll. Sie habe gedacht, es handle sich um einen neuen Freund, einen aus der Clique, sonst wäre sie wohl kaum so aufgekratzt gewesen. Sie habe einen Song von Ibrahim Ferrer gesungen.
Gregor Häusermann räusperte sich. Nichts tat sich. Er klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch. Das Gerede hörte auf, die Blicke wandten sich ihm zu. Er räusperte sich erneut, als Departementsleiter hatte er die Sitzung offiziell zu eröffnen. Er begann leise, wie er sich das zur Gewohnheit gemacht hatte, seine blauen Augen erfassten jedes Kommissionsmitglied. Eine rhetorische Pause, die Stimme anschliessend kräftiger – eingehend mahnte er zur Besonnenheit und zur Verantwortung gegenüber den Bürgern, vor allem auch gegenüber der Polizei, deren Ruf nicht unbegründet in den Dreck gezogen werden dürfe.
Häusermann schob die Traktandenliste beiseite und übergab das Wort der Präsidentin.
4. Es hallt von der Kirchenwand
«Nach der Sitzung ist vor der Sitzung», sagte Verena Grunder-Koch beim Abschied. «Das ist eben lokale Politik, das Bohren harter Bretter braucht Zeit. Heute hast du die ganz dicken Bretter erlebt.» Sie wartete Rahels Reaktion ab, als diese ausblieb, fuhr sie fort: «Die Polizei hat einen schweren Job. Kommandant Willisauer ist allergisch auf Kritik, dünnhäutig und eitel, das stimmt. Aber er führt seine Leute, er fordert sie, intern greift er durch.» Die Stadtpräsidentin klemmte ihre Mappe unter den Arm. Schornfeger eilte auf sie zu, bat um eine Minute, sie winkte ab, er solle morgen telefonieren.
Rahel überlegte einen Augenblick.
«Ich fand es befremdlich, wie die Herkunft des Opfers thematisiert wurde. Die Situation am Bahnhof – ich hatte nie Probleme mit Eritreern.»
«Es sind die Sorgen der Bevölkerung», entgegnete die Stadtpräsidentin, «und Bedrohung wird subjektiv erlebt. Die Politik ist männlich geprägt, leider, seit Jahrtausenden.»
«Das erklärt für mich noch nichts.» Rahel verschränkte die Arme vor der Brust.
«Politik ist eine Kunst, nicht nur des Machbaren, wie immer gesagt wird, sondern vor allem des Umgangs mit den Ängsten der Bevölkerung.»
Diese Erklärung verstand sie.
Drei Treppen führten vom Rathaus aus hinunter ins Allmendquartier: eine direkt an der Nordmauer über den behauenen Felsen, zwei bei der Kirche, wobei die eine als Tunnel durch eine Häuserreihe gebaut worden war. Meist nahm Rahel den Kirchweg, der länger war, dafür mit Strassenlaternen beleuchtet, gesäumt von denkmalgeschützten Fassaden und Fenstern, aus denen nachts Licht schien. Hier wohnten langjährige Mieter, die sich kannten und die gerne am Schattenhang lebten, solange sie dafür mit weniger Geld durchkamen.
Rahel trat durch die grosse Rathaustür ins Freie, eilte über den Vorplatz und bog in die erste Querstrasse, auf der sie zum Kirchplatz gelangte. Hinter sich hörte sie das Klacken harter Absätze auf dem Kopfsteinpflaster. Zwei Frauen mittleren Alters, die betrunken durch die Altstadt staksten – Rahel war beruhigt. Je näher sie der Kirche kam, desto deutlicher hörte sie die Schritte von vorne, als näherten sie sich aus der dunklen Nebengasse vor ihr. Das Phänomen war ihr bekannt, eine Reflexion des Schalls. Doch so täuschend wie jetzt hatte sie es noch nie erlebt. Auf der Höhe des Kirchturms hallten die Schritte aus allen Richtungen. Eine mysteriöse Vervielfachung, die kurz darauf in sich zusammenfiel. Rahel liess die beiden Frauen vorbei, die zielstrebig einer Haustür entgegenwankten. Die eine lachte, die andere sang, falsch, dafür mit Begeisterung und laut.
Rahel kam zum Pfarrsteig, wo sie sich von Sara verabschiedet hatte. Seit sie vor vier Jahren in ihre Stadt zurückgekehrt war, hatte der Ort für sie nichts mehr von der früheren Unheimlichkeit, selbst nachts strahlte er eine eigentümliche Vertrautheit aus. Eine Art Verbindung mit ihrer Schwester, mit ihrem früheren Leben, bevor es auseinanderfiel. Ein Gefühl von Zeitlosigkeit erfasste sie. Als wäre hier Anfang und Ende.
Einige Stufen tiefer verlor sich dieser Zustand, es blieb das Rauschen des Verkehrs, die Lichter, das dunkle Band der Aare.
Das Haus, in dem sie aufgewachsen war und jetzt wohnte, lag an einer Kreuzung von zwei kaum befahrenen Strassen. Sie öffnete das Gartentor, es quietschte, schloss es vorsichtig und trat auf den Kiesweg, der zur Veranda führte.
Es knackte im Unterholz.
Rahel zuckte zusammen und spürte in sich diese lauernde Angst, die sie seit Saras Verschwinden verfolgte. Sie konzentrierte sich auf das Jetzt. Der linke Schuh drückt an der Ferse. Zigarette ausdrücken. Die Handballen gegeneinander reiben und an die Schläfen pressen.
Es gibt keinen Grund zur Panik. Alles ist gut.
Sie öffnete die Verandatür. In der Küche stapelte sich Geschirr, es roch muffig. Lena hörte Musik in ihrem Zimmer.
5. Sara
Sara war stets fröhlicher gewesen als ihre Schwester. Sie hatte die Art der Grossmutter väterlicherseits, sportliche Figur, gewinnendes Wesen. Der Umgang mit Menschen fiel ihr leichter als Rahel, die brüsk und verschlossen sein konnte. Nach Abschluss des Gymnasiums plante sie ein Auslandjahr in Amerika, jedenfalls englischsprachig und keinesfalls Australien (da wollten alle hin, weshalb es für sie keine Option mehr war. Ausserdem schien ihr die Lebensweise zu lethargisch). Sara hatte Pläne für ihr Leben: Jurastudium, Anwältin in einer NGO für Kinderrechte, Familie. Dass sie den richtigen Mann finden würde, stand ausser Frage. Sie hatte dieses Flüchtige, Unverbindliche im Umgang mit Männern, die vergnügt-natürliche Anziehung derer, die wissen, dass sie begehrt werden. Nicht dass sie dauernd wechselnde Liebschaften gehabt hätte – im Grunde war sie konservativ, und das Begehrtwerden erfüllte bereits einen Grossteil ihrer erotischen Fantasie.
Während zweier Jahre hatte sie einen Freund gehabt, von dem sie sich im Herbst getrennt hatte. Er verstand nicht, was an ihm hätte ungenügend sein sollen. Es liege nicht an ihm, hatte sie ihm gesagt und kindisch gekichert, da sie sich fühlte wie eine Schauspielerin in den billigen Serien, die ihre Mutter schaute.
Im März begann sie eine Affäre mit einem zehn Jahre älteren Mann namens Oskar, der kurz vor der Heirat stand. In einer unkontrollierbaren Manie suchte er Sex mit jungen Frauen, Sara traf er in einem Café (ihr war eine Münze zu Boden gefallen, er gab sie zurück). Sie war sofort verliebt, auf den ersten Blick. Doch entgegen seinen Beteuerungen heiratete Oskar im Mai. Die Feier soll bieder gewesen und Oskar stockbesoffen. Sara war untröstlich, löschte seine Nummer und lernte verbissen für die Matura.
Am 4. Juni 1998, einem Donnerstag, hatte sie Prüfungen. Über Mitteleuropa richtete sich ein stabiles Sommerhoch ein, die Böden trockneten, es wurde heiss. Am Abend ging sie mit Rahel in den Stadtpark, ein längliches Gebilde, das sich um einen Teil der Altstadt zog – eigentlich nichts weiter als ein Flickenteppich aus Rasen, Gehölz und Rabatten. Um die Bänke hatten es sich Jugendliche gemütlich gemacht, die den Sommer dieses vielversprechenden Jahres gemeinsam verbringen wollten.
Emilios Geburtstagsparty fand im hinteren Teil statt. Er war in Feierlaune, denn er wurde dreiundzwanzig und glaubte an das Glück von Primzahlen. Bis vor kurzem hatte er mit Rahel das Lehrerseminar besucht (sie hatte nach drei Semestern abgebrochen). Er war verliebt in ihre Art, unprätentiös und doch besonders zu sein. Irgendjemand brachte kalifornischen Rotwein aus dem Sonoma County, mit designten Etiketten, damals eine Rarität. Marihuana war im Umlauf, Rahel verzichtete.
Sara