Sara Z., verschwunden. Pirmin Müller
dazu, die meisten kannte sie vom Sehen. Ein blonder Schreiner mit breitem Rücken und zurückgebundenem Haar schlich um sie herum, setzte sich neben sie, die Zigarettenpackung wie ein Vietnam-GI zwischen Schulter und T-Shirt gesteckt. Er quatschte auf sie ein und versuchte sie zu küssen. Sara rutschte von ihm weg. Der blonde Schreiner verlangte ihre Nummer.
Sara winkte ab. «Ich muss jetzt gehen», sagte sie und rief nach ihrer Schwester. Wenig später verabschiedeten sie sich von ihren Freunden und zogen kichernd durch die Gassen bis zur Treppe bei der Kirche – wo sich Sara mit dem Hinweis auf den verloren gegangenen Armreif umdrehte und verschwand.
Die erste Befragung fand drei Tage später in einem kahlen Raum statt. Rahel wartete, bis der Polizist Kaffee brachte. Er stellte ihn hin, ein dünnes Wässerchen in einem beigen Plastikbecher.
«Wie in einem Film.» Rahel entschuldigte sich umgehend. «So habe ich es nicht gemeint.»
«Wie sonst?», fragte der Polizist, setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
Rahel zögerte, sie war verwirrt.
«Von mir aus können wir beginnen – es ist nur –, es fühlt sich unwirklich an, hier zu sein.»
«Das höre ich oft», beruhigte sie der noch junge Ermittler mit näselnder Stimme, sein linkes Augenlid zuckte. Er stellte präzise Fragen, sie antwortete so ausführlich sie vermochte. «Jedes Detail ist hilfreich», wiederholte der Ermittler mehrmals.
Sie verstrickte sich in Widersprüche, war sich bei einfachen Begebenheiten unsicher, ob sie tatsächlich so stattgefunden hatten.
«Ich mache mich noch selbst verdächtig», murmelte sie resigniert, als es ihr nicht gelang, die Ereignisse zeitlich zu ordnen.
«Die Erinnerung», erklärte er trocken, «ist eine Konstruktion – oder um es weniger gewählt auszudrücken: ein Sauhund.»
Erleichtertes Lachen an beiden Seiten des Tischs. Auf seine Nachfrage beschrieb sie noch einmal den blonden Schreiner. Seine Tätowierung am Oberarm, oben an der Schulter. Ein Ornament, kein Bild, etwa so breit wie eine Hand.
Dominik Schmidlin, der Schreiner, wurde festgenommen. Er log, da er kein Alibi vorzuweisen hatte. Später behauptete er, er habe im Park geschlafen, unter einem Busch. Schwierige Familienverhältnisse, Vater und Bruder polizeibekannt. Die Staatsanwaltschaft ordnete Untersuchungshaft an.
Sein Bild erschien in der Zeitung: «Hat er Sara getötet?»
Nachgewiesen werden konnte ihm nichts. Doch Sara blieb verschollen, und Dominik Schmidlin weiterhin tatverdächtig. Er setzte sich zur Wehr, erklärte jedem, dass er damit nichts zu tun habe. Niemand schien ihm zu glauben; je mehr er sich verteidigte, desto verdächtiger machte er sich. Ein Teufelskreis, aus dem er keinen Ausweg fand.
Ende September raste er auf der Hauptstrasse zwischen Sursee und Beromünster in einen Baum und verstarb im brennenden Auto.
Es hiess, der Unfall sei als Schuldeingeständnis zu werten. Beweise gab es keine.
6. Sara
Dominik Schmidlin blieb nicht der Einzige, der am Verschwinden Saras zugrunde ging. Auch die Ehe der Zeittlingers zerbrach an der Hoffnung, dass die Tochter eines Tages wieder vor der Tür stehen würde. An den Berichten über Marc Dutroux, dem Monster aus Belgien, und Natascha Kampusch, die ein Jahrzehnt in einem Keller gefangen gehalten worden war. Mitten in einem Wohnquartier.
Rahels Mutter bekam Temesta (ein Beruhigungsmittel) verschrieben, trank Likör und wurde von beidem abhängig. Der Vater zog zu einer Frau mit zwei Töchtern. Auch sein Leben sei begrenzt, schrie er beim Auszug. Das Warten treibe ihn in den Wahnsinn.
Im folgenden Winter wurde Mutter mit einer akuten Psychose in die Klinik eingewiesen. Rahel rief ihren Vater an und wollte ihm mitteilen, dass er sich nie mehr zu melden brauche. Es sei besser, keinen Vater zu haben als einen abwesenden.
Als sie den freundlichen Klang seiner Stimme hörte, begann sie zu schluchzen und hängte auf.
Neun Jahre nach Saras Verschwinden durchsuchte ein Wanderer namens Jost Gabathuler eine Hütte auf dem Obergrenchenberg. Er hatte sich Zutritt verschafft, um sich vor einem aufziehenden Wintersturm in Sicherheit zu bringen. Es war kalt, der Biswind jagte über die Höhen. Gabathuler suchte nach Wolldecken, damit er die Nacht überstand. Auf dem Boden eines mit Blumen bemalten Wandschranks fand er eine Plastiktüte, darin Saras Kleider. Als er bemerkte, dass es Frauenkleider waren, legte er die Tüte beiseite. Seiner Frau schrieb er eine SMS, es gehe ihm gut, er übernachte in einer gemütlichen Hütte.
Der Wind rüttelte an den Holzlatten, pfiff durch jede Ritze, Gabathuler fror und fürchtete sich vor einer Lungenentzündung. Mit dem ersten Morgenlicht stand er auf, räumte seine Sachen zusammen und verstaute sie im Rucksack. Er stand bereits in der Tür, als er innehielt, sich umdrehte und den Wandschrank anstarrte, in dem er die Plastiktüte verstaut hatte. Er öffnete den Schrank und holte die Plastiktüte hervor. Kleider einer mittelgrossen Frau, schlank, Schuhe, Unterwäsche. In der Hosentasche ein Haarband, eine Armbanduhr sowie ein leeres Portemonnaie. Im Schuh ein zusammengefaltetes Stück Papier, er öffnete es, eine Zahlenreihe war darauf gekritzelt. Er faltete das Papier wieder zusammen und steckte es zurück in den Schuh. Ein bedrohliches Gefühl, das er nicht einzuordnen vermochte, beschlich ihn. Er hatte das Bedürfnis, seine Frau anzurufen, aber der Akku seines Handys war leer.
Draussen schneite es, er ging aufs Geratewohl los, bis er auf eine Wanderwegtafel stiess. Er stapfte weiter durch den verwehten Schnee bis zu einem Ausflugsrestaurant, dessen Wirt er kannte. Dieser rief die Polizei und versorgte ihn mit Kaffee und Frühstück.
Jost Gabathuler hatte Hunger, aber keinen Appetit. Das Brot liess er stehen, ebenso den Käse.
Saras Überreste wurden am 4. Dezember 2008 unweit der Hütte gefunden. In einer unzugänglichen Nische der Kalkfelsen, geschützt von Tannen, zugedeckt mit einer dicken Schicht aus Steinen, Erde und Ästen. Anhand der Zahnstellung und eines DNA-Abgleichs wurde sie identifiziert. Der Fall Sara Zeittlinger wurde erneut aufgerollt. Als Experte für ungelöste Fälle übernahm Otto Schulze die Leitung – der Mann von Dorothea Schulze, geb. von Landenberg.
7. Ein guter Tag
Die Amsel im Garten besang die Morgendämmerung. Rahel erwachte, suchte Mareks Körper – er ist ja weg, dachte sie –, drehte sich zur Seite und schlief weiter. Kurz darauf wurde sie von Lenas Schritten geweckt. Weshalb ihre Tochter mit den Fersen dermassen auf den Boden stampfte, blieb ihr ein ärgerliches Rätsel. Andererseits war das Getrampel auch beruhigend: Lena war hier, sie stapfte herum, der morgendliche Hunger trieb sie in die Küche, sie musste auf die Toilette, zog sich an. Alles war gut.
«Mama», rief Lena, «soll ich Kaffee kochen?»
«Ich bin unterwegs», rief Rahel etwas zu aufgeweckt. Sie zog sich hastig an und eilte in die Küche.
«So, da wären wir.»
Lena lachte.
«Die Vögel haben mich geweckt. Ich bin nur für einen klitzekleinen Augenblick wieder eingenickt.»
«Aber Hauptsache, ich bin pünktlich in der Schule.»
«Kluges Kind.»
Rahel fuhr ihr über die Stirn und durch die Haare.
«Wir haben es gut», sagte Lena und umarmte ihre Mutter.
«Ja, wir haben es gut», versicherte Rahel und schmiegte sich an sie.
«Vergiss deinen Kaffee nicht», mahnte Lena, bevor sie aus dem Haus rannte.
Mach dir keine Sorgen, dachte Rahel, und schaute, wie ihre Tochter mit der schweren Schulmappe den Kirchsteig hocheilte. Sie rauchte eine Zigarette, suchte die Amsel (ausgeflogen, dafür entdeckte sie einen Igel im Gehölz), danach ging sie zurück ins Haus. Nach einer ausgiebigen Morgendusche (mit anschliessender Gesichtsmaske) zog sie einen