Wie Österreich Weltmeister wurde. Ulrich Hesse-Lichtenberger

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war auch das Zeitgefühl des Portugiesen Gouveia, dessen kurzfristige Umnachtung 1960 für einen etwas ungewöhnlichen Protest des französischen Klubs OGC Nizza bei der UEFA sorgte. Im Viertelfinale des Europapokals traf Nizza nämlich auf Real Madrid, siegte daheim zwar mit 3:2, verlor aber das Rückspiel gegen das „Weiße Ballett“ 0:4. In der 44. Minute dieses zweiten Spiels stellte Gouveia einen Spieler Nizzas vom Feld, weil jener ihm vor Wut über einen Elfmeterpfiff in den Rücken gesprungen war. Der Aufprall muss einige Nervenenden bei Herrn Gouveia durcheinander gebracht haben, denn der Referee vergaß danach vorübergehend, seinen Zeitmesser zu konsultieren. Erst nach 54 Minuten beendete er die erste Halbzeit. Dass aber nun Nizza ein Wiederholungsspiel von der UEFA verlangte, war doch etwas übertrieben: Erstens wurde der Elfmeter vergeben und zweitens fiel in diesen überzähligen neun Minuten kein Tor für Real.

      Ganz anders hätte die Sache ausgesehen, wenn Herr Gouveia das Spiel eher beendet und Nizza so die Möglichkeit zu ein paar Toren genommen hätte. Wenn er, sagen wir mal, in der 84. Minute beim Stand von 0:1 abgepfiffen hätte, als gerade ein Franzose aufs Tor zulief. Gibt’s nicht? Fragen Sie den brasilianischen Schiedsrichter Gilberto de Almeida Rêgo. Der tat nämlich genau das am 15. Juli 1930, bei der ersten Fußball-WM der Geschichte. Sechs Minuten vor Ende der Partie Argentinien gegen Frankreich strebte der französische Stürmer Marcel Langiller dem gegnerischen Tor zu, um das 1:1 zu erzielen – da pfiff Rêgo die Partie ab. Zwar sah der gute Mann nach ausführlichen Diskussionen mit den etwas ungehaltenen Beteiligten seinen Fehler später ein und setzte das Spiel fort – aber das half Langiller auch nichts mehr. Argentinien gewann 1:0 und stand zwei Wochen später im Finale.

      Ohne solch ernste Auswirkungen blieb die Tatsache, dass Arthur Ellis ein Europacup-Spiel zwischen den Glasgow Rangers und – schon wieder! – OGC Nizza am 24. Oktober 1956 beim Stand von 2:1 nach 85 Minuten abpfiff. In der Kabine ging ihm sein Fehler auf, und er ließ die fehlenden fünf Minuten nachspielen. „Glücklicherweise änderte sich das Ergebnis nicht mehr“, sagte er später. Wie es zu jenem Faux-pas kam, das ist allerdings eine Geschichte, die Ellis etwas peinlich war: Nach 80 Minuten hatte der Ball das Handgelenk des Schiedsrichters getroffen und dabei seine Uhr zerstört. Anstatt sich nun um einen Ersatz zu bemühen, beschloss Ellis, seinem Zeitgefühl zu vertrauen. Und das kann offenbar nicht besonders gut gewesen sein.

      Immerhin muss man wohl froh sein, dass die Unparteiischen nicht noch viel direkter ins Spiel eingreifen. Im Jahre 1968 schoss Ivan Robinson ein Tor in der Partie Barrow gegen Plymouth Argyle in Englands „Third Division“, als er mit dem Fuß einen Schuss unhaltbar abfälschte. Allerdings war das Robinson sehr peinlich, denn er war der Schiedsrichter des Spiels, das durch seinen unbeabsichtigten Treffer entschieden wurde. (Barrow landete am Ende der Saison zwei Punkte vor einem Abstiegsrang.) Ganz anders sah die Sache im September 2002 bei einem Amateur-Kick zwischen Wimpole und Earls Colne aus. Letztere führten schon 18:0, als Wimpole eine Ecke bekam. Ein Mann namens Brian Saville stahl sich nach vorne, stoppte den Ball mit der Hand und schoss ihn dann volley ins Netz. Dann zeigte er seelenruhig zur Mitte. Das durfte er tun, weil er nämlich der Schiedsrichter war. „Ich habe das Handspiel nicht gesehen und deshalb auf Tor entschieden“, sagte Saville anschließend mit feiner Ironie dem Radiosender „BBC Radio Five Live“. Der Mann hatte einfach Mitleid mit Wimpole gehabt, eine menschliche Regung, die einem Kollegen wie Clive Thomas wohl fremd ist.

      Eintracht Braunschweig wurde 1967 Deutscher Meister, erzielte in 34 Spielen aber nur 49 Treffer, also 1,44 pro Partie. Was geizige, um nicht zu sagen langweilige Titelträger angeht, ist das aber kaum erwähnenswert. Valencia wurde in der angeblich so aufregenden, hochklassigen spanischen Liga 2002 Meister, indem das Team in 38 Spielen 51 Treffer schoss (1,34 pro Partie). Noch besser – oder schlechter – war natürlich eine italienische Elf: Der AC Mailand gewann 1994 den „Scudetto“ mit 36 Toren in 34 Spielen. Aber selbst das ist noch kein Rekord, weil die Milanesen immerhin so forsch nach vorne spielten, dass sie statistisch gesehen mehr als ein Tor pro Begegnung machten (nämlich 1,06).

      Über einen solch unnötigen Offensivschwung kann man beim AIK Solna aus Stockholm nur müde lächeln. AIK schoss in der Saison 1998 (in Schweden spielt man von April bis November) 25 Tore in 26 Spielen und holte mit diesem Schnitt von 0,96 Treffern pro Begegnung die schwedische Meisterschaft. (Torschützenkönig der Liga wurde übrigens Helsingborgs Arild Stavrum mit 18 Toren.) Hier alle Ergebnisse dieses Wunderteams: 1:0 gewonnen, 1:1, 1:0 gewonnen, 1:1, 1:1, 1:1, 0:1 verloren, 0:2 verloren, 1:1, 1:1, 1:0 gewonnen, 1:0 gewonnen, 1:0 gewonnen, 1:1, 2:0 gewonnen (Schützenfest gegen Hammarby!), 0:0, 2:1 gewonnen, 1:1, 1:0 gewonnen, 0:0, 2:1 gewonnen, 1:1, 2:0 gewonnen (Schützenfest gegen Orebro!), 1:1, 0:0, 1:0. AIK qualifizierte sich dann sogar für die Champions League (mit vier Toren in vier Qualifikationsspielen), holte aber in seiner Gruppe nur einen Punkt. Gegen den AC Florenz. Durch ein 0:0.

      Es wird immer mal wieder behauptet, im Fußball gäbe es keine Typen mehr. Dabei durften wir doch gerade erst die ereignisreiche Karriere von Thorsten Legat bestaunen, von dem ein Buch über Werder Bremen sagt: „Na ja, irgendwie hatte er schon Unterhaltungswert.“ Allerdings! Zur Saison 1991/92 wechselte Legat für 2 Millionen Mark vom VfL Bochum zu Werder. Wie sich aber auch später in Stuttgart zeigen sollte, konnte er das Ruhrgebiet nie so ganz hinter sich lassen. Als Bremen am 5. Juni 1993 Deutscher Meister wurde, durfte man Legat in einem Beitrag des „aktuellen sport-studio“ bewundern, wie er mit nacktem Oberkörper durch den Kabinengang lief, dabei wiederholt die Faust gegen eine Wand schmetterte und „Mit zwei Bochumern! Mit zwei Bochumern!“ schrie. Damit meinte er sich und Stefan Kohn, mit dem Legat zwei Jahre beim VfL gespielt hatte. (Kohn kommt aus Aalen bei Stuttgart.)

      Jupp Heynckes holte Legat dann 1994 zu Eintracht Frankfurt, damit er auf Uwe Beins Position spielen sollte. Das war natürlich eine groteske Idee, denn für den filigranen Bein war der Hobby-Bodybuilder Legat nun wirklich kein Ersatz. (Auf die Frage, wie er zum Bodybuilding gekommen sei, antwortete er übrigens: „Immer die Castroper Straße rauf.“) In Frankfurt hat man für reine Arbeiter wenig übrig, deshalb musste Legat – wie eine Historie der Eintracht schreibt – „Hohn und Spott über sich ergehen lassen“. So sehr setzten ihm die eigenen Fans zu, dass er schließlich seinen neuen Trainer Karl-Heinz Körbel bat, ihn nur noch bei Auswärtsspielen aufzustellen. Als Körbel ihm dann zwei Wochen später doch wieder im Waldstadion eine Chance gab, zog sich der Spieler noch vor der Halbzeit eine Zerrung zu. Legat behauptete gar, Frankfurter Fans hätten ihn in seiner Tiefgarage überfallen. „Meine Frau und ich wurden von rot-schwarz bemalten Eintracht-Anhängern mit einer Schußwaffe bedroht“, sagte er und ging mit dieser Geschichte auch noch ins Fernsehen – zu RTLs „stern tv“.

      Kaum war die Saison vorüber, floh Legat nach Stuttgart. Aber auch hier gab es Probleme. „Das fing schon mit der Sprache an“, erklärte er später und fügte hinzu, dass ihm die Gegend einfach viel zu idyllisch war – „die ganzen Weinberge und so“. Nein, die schwäbische Lebensart war Legats Sache nicht. Auf die Frage, ob er schon Spätzle probiert habe, sagte er: „Nein, noch nicht. Aber im Allgemeinen mag ich ja Geflügel.“ Kein Wunder also, dass Legat immer mal wieder Ausflüge in seine Wahlheimt Bochum unternahm. Wie zum Beispiel in der Silvesternacht 1996/97, in der er das neue Jahr damit begrüßte, dass er einen Nachbarn verprügelte. Zwar stritt Legat lange alles ab, doch das Amtsgericht verurteilte ihn zu einer Strafe von 90.000 DM.

      Trotz aller kulturellen Unterschiede hielt es Legat noch drei weitere Jahre in Stuttgart aus – bis er im November 1999 eines Tages mal wieder im Kraftraum war. Da fiel sein Blick auf ein Poster seines Kollegen Pablo Thiam aus Guinea, das ihn aus einer Flasche trinkend zeigte. Ohne groß nachzudenken, kritzelte Legat das Wort „Negersaft“ über das Poster. Der Klub versuchte herauszufinden, um wen es sich bei dem Schmierfinken handelte, aber da Legat sich nicht zu erkennen gab, musste ein Graphologe herangezogen werden. Jeder Spieler schrieb das Wort „Negersaft“ auf einen Zettel – und bei Legats Schriftprobe fand der Experte drei Übereinstimmungen. Da erst entschuldigte sich Legat bei Thiam und erklärte, er habe nur „einen Spaß gemacht“. Der VfB entließ ihn trotzdem.


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