Erster Preis: Du!. Lisa Honroth Löwe

Erster Preis: Du! - Lisa Honroth Löwe


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Der Knochen, den er tags zuvor seinem Nachbarn, dem schwarzen Spitz, entrissen hatte, lag wohlverwahrt in einer Ecke des Gartens. Waldi hatte eigentlich beabsichtigt, den heutigen Morgenspaziergang mit Herrchen dazu zu benutzen, um in Ruhe diesen Knochen zu vertilgen. Aber als Sanitätsrat Keunecke wieder pfiff, nun etwas schärfer, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Sein sorgenvolles Dackelgesicht zeigte höchste Missbilligung, und immer wieder wandte er sich sehnsüchtig nach dem geliebten Knochenversteck um.

      „Wahrhaftig, Veilchen“, sagte Sanitätsrat Keunecke vor sich hin. Durch seine Brille hatte er sie erspäht. Die ersten dunkelblauen, kleinen Blütchen, noch zag und verdeckt vom Laub, aber dennoch da! Ein unwiderlegbarer Beweis, dass der Frühling nun endlich gekommen war. Er wollte sich bücken. Da scholl eine schrille Stimme von der Veranda:

      „Heinrich, Heinrich, du sollst dich doch nicht bücken! Heinrich, komm doch weg. Am Wasser zieht es. Heinrich, du bist überhaupt schon viel zu lange draussen. Heinrich, das Frühstück ist fertig.“

      „Wollen wir gehen, Waldi?“ fragte Sanitätsrat Keunecke seinen Dackel.

      Waldi wandte sich um nach der Richtung, aus der wieder das schrille „Heinrich“ ertönte. Sein Gesicht drückte noch tiefere Missbilligung aus. Diese Stimme und was zu ihr gehörte, war noch schlimmer, als wenn man seinen Knochen nicht holen konnte.

      Er sah seinen Herrn ermunternd an, als wollte er sagen: Bleiben wir hier — seien wir mutig! Und dann begann Waldi wild in dem vermoderten Laubwerk zu scharren; das bedeutete: Siehst du nicht, dass ich hier dringend beschäftigt bin? Lass die da drin doch warten!

      Sanitätsrat Keunecke musste über die sprechende Mimik Waldis lachen. Also bleiben wir hier, Waldi. Schrecklich, diese ewige Bevormundung. Stellen wir uns scheintot!

      Doch dieser mutige Entschluss nutzte Sanitätsrat Keunecke nicht viel. Vom Hause her kam ein flatterndes Etwas. Ein alter Lodenmantel, halb umgeschlagen, darüber ein spitzes Gesicht mit unwahrscheinlich langer Nase und einem schief sitzenden Augenglas vor kleinen, graugrünen Augen. Das Ganze gekrönt von einem unordentlich wehenden grauen Haargewuschel. Das war Sidonie Tessel, die verwitwete Schwester des Sanitätsrats, und die eigentliche Herrin im Hause.

      „Buff“, bellte Waldi kurz auf. Und dann verzog er sich. Er hatte es so im Gefühl, wenn Sidonie Tessel so ankam, dann wählte man besser die Flucht. Zwischen Waldi und Sidonie bestand eine tiefe und herzliche Abneigung. Wäre in diesem einen Punkte der alte Sanitätsrat Keunecke nicht seiner Schwester gegenüber energisch gewesen: Waldi wäre wohl nicht mehr hier. Sidonie hasste Hunde, wie überhaupt alles Getier. Nach ihrer Meinung gehörten Tiere in die Natur, allenfalls in den zoologischen Garten, aber nicht ins Haus. Sie hasste jede Unordnung und jede Ueberraschung. Vor allen Dingen waren ihr Hunde im Hause verhasst, denn kurzsichtig, wie sie war, stolperte sie bei allen Gelegenheiten darüber: „Man sieht sie nicht, dann tritt man auf sie, dann quietschen sie, dann erschrickt man und dann kriegt man Migräne!“ In diesem klassischen Satz hatte sie ihre ganze Abneigung gegen Hausgenossen wie Waldi zusammengefasst.

      Waldi war in den Jahren, als Sanitätsrat Keunecke noch allein wirtschaftete, ziemlich der Selbstherrscher des Hauses geworden. Es hatte eines zähen und erbitterten Kampfes zwischen Sidonie und Waldi bedurft, um Waldi zur Vernunft zu bringen. Schliesslich hatte es Waldi eingesehen: Sidonie mit ihrem kleinen gelben Rohrstock war entschieden die Mächtigere. Es hatte keinen Zweck, die Bücklinge vom Abendbrottisch herunterzufressen und die Köpfe fein säuberlich auf den Tisch zu garnieren, wenn man hinterher Hiebe bekam. Sanitätsrat Keunecke hatte etwas Derartiges nur mit einem verweisenden: „Aber Waldi, wirst du denn niemals vernünftig werden!“ quittiert.

      Und Waldi hatte nicht daran gedacht, vernünftig zu werden. Ein Dackel hatte nicht vernünftig zu sein, das lag nicht in seiner Natur. So fühlte er sich von Sidonie und ihrem schmerzenden Rohrstock geradezu vergewaltigt. Er ging ihr aus dem Wege, wo er nur konnte, und überliess auch jetzt den Sanitätsrat der schrillen Stimme und den vorwurfsvollen Augen Sidonies.

      „Aber Heinrich, ich habe dich doch schon ein paarmal gerufen. Hast du nicht gehört?“

      „Du mich gerufen?“ Sanitätsrat Keunecke stellte sich unschuldig wie ein vom Himmel gefallenes Kind. „Kein Wort hab’ ich gehört, Sidonie.“

      „Siehst du, Heinrich, jetzt schlägt’s dir auch noch auf die Ohren“, jammerte Sidonie Tessel schrill. „Sicher ist die Erkältung weitergegangen. Komm nur schon ’rein. Willst du dir denn den Tod holen? Es ist furchtbar mit euch Männern. Unvernünftig wie die kleinen Kinder! Gott sei Dank, dass ich nicht noch einmal geheiratet hab’. Ich Aermste — wie wäre es mir da ergangen?!“

      Dabei nahm sie energisch Sanitätsrat Keunecke unter den Arm und schob ihn dem Hause zu.

      Sanitätsrat Keunecke, ergeben neben ihr herstapfend, dachte bei sich: Wie wär’s erst einem zweiten Manne ergangen, wenn er dich geheiratet hätte, meine Liebe! Der erste hat schon genügend auszustehen gehabt! — Aber zu sagen wagte er das nicht. Denn gegen Sidonie zog er doch immer den kürzeren. Sie war der Herr im Hause. Und hätte er sich behaupten wollen, da hätte er schon früher anfangen müssen. Damals schon, als sie Herdith — ach, gar nicht daran denken! Wenn er an Herdith dachte, dann bekam er Herzbeklemmungen.

      Aber schön war das Leben nicht mehr, seitdem das Kind aus dem Hause war und man krank geworden und anfällig, ganz den Launen und der Tyrannei Sidonies ausgeliefert. Ein Glück, dass er sich angewöhnt hatte, nicht mehr hinzuhören. Was Sidonie erzählte, ging zu einem Ohr herein, zum andern hinaus. So hörte er auch jetzt nicht, was sie ihm mit ihrer klirrenden Stimme berichtete, dass Rechtsanwalt Megede sich ein Auto gekauft hätte. Unerhört eigentlich, wie die jungen Leute jetzt hoch hinaus wollten — kaum niedergelassen als Anwalt und schon ein Auto. Sein Vater wäre schön zu Fuss gegangen. Aber der Herr Sohn?

      „Alles überspannt! Jeder will was Besonderes sein. Findest du nicht auch, Heinrich?“

      „Ja, ja“, stimmte Sanitätsrat Keunecke zu; er hatte keine Ahnung, was Sidonie eben geredet hatte. Da war ja der erste Zitronenfalter über dem Rasenweg. Ganz dottergelb und noch etwas ungeschickt flatterte er durch die Luft.

      „Und Frau Hartmann hat erklärt, sie hätte auch gern mal zum Abendbrot belegte Stullen statt Schmalzstullen. Was die Leute jetzt anspruchsvoll sind. Der eine ein Auto, der andere belegte Stullen!“

      „Wieso will denn Megede belegte Stullen?“ fragte Keunecke zerstreut. Die Bäume standen schon in den ersten Knospen und hoben sich zart wie eine Zeichnung von dem weichen Frühlingshimmel ab.

      „Du hast auch für nichts mehr Sinn, Heinrich“, schalt Sidonie Tessel. „Man kann dir erzählen, was man will. Du interessierst dich für nichts!“

      „Oh, meine Liebe, ich interessiere mich. Also wie war das mit den Schmalzstullen?“ wiederholte Keunecke gehorsam.

      Der Hausflur empfing sie in seiner steinernen Kühle. Die alten Mauern des Keuneckeschen Hauses hielten noch die winterliche Kälte fest.

      „Aber Heinrich, du wirft dir doch nicht den Mantel hier draussen ausziehen. — Das will ein Arzt sein?!“

      Sidonie Tessel schob ihren Bruder energisch in das Wohnzimmer hinein. In dem bullerte der alte Kachelofen lustig. Ein schöner Duft von Kaffee zog durch den Raum.

      Jetzt kam Martha, das kleine Hausmädchen, und half dem Sanitätsrat aus dem Pelz. Er setzte sich an den Tisch. Der war tadellos gedeckt. Auf den Zentimeter genau standen die Tassen ausgerichtet, neben ihnen Teller und Messerbänkchen. Links lag neben dem Platz des Sanitätsrats seine Post und die Morgenzeitung, neben dem Platz von Sidonie Tessel die illustrierten Zeitschriften, die sie zu lesen pflegte.

      „Martha, den Tee für den Herrn Sanitätsrat!“

      „Ach schade, ich dachte, ich bekomme Kaffee.“

      Sanitätsrat Keunecke sah bedrückt auf die dickbauchige Kanne, die unter einer rosagestrickten Kaffeemütze verborgen war.

      „Aber Heinrich, Kaffee bei deinem Herzen? Du weisst, Kaffee ist dir schädlich. Du trinkst Tee!“ Sidonie rückte energisch die Kaffeekanne aus der Nähe des


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