Erster Preis: Du!. Lisa Honroth Löwe

Erster Preis: Du! - Lisa Honroth Löwe


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würde, dann wärst du schon längst im Grabe.“

      „Man kann auch durch zuviel Fürsorge ins Grab kommen, liebe Sidonie.“

      Der Sanitätsrat konnte nun doch nicht mehr gegen seine Wut an. „Ich bin doch schliesslich kein kleines Kind, dass du mich von früh bis abends gängelst.“

      „Oh, bitte — wenn es dir nicht passt, brauchst du es nur zu sagen. Aber warum du mich dann aus meinem Stift fortgeholt hast, das möchte ich gern wissen. Wie schön hatte ich es dort! Wie ruhig! Keine Sorgen. Keine Arbeit. Keinen Aerger.“

      „Ja, ja, ich weiss, du hast mir ein grosses Opfer gebracht, Sidonie“, warf der alte Herr ganz erschrocken ein. Wenn Sidonie jetzt anfing, ihm aufzuzählen, was sie um seinetwillen alles aufgegeben, dann war es mit der gemütlichen Kaffeestunde und dem behaglichen Zeitunglesen wieder einmal vorbei.

      Sidonie hatte ein beneidenswertes Talent, alle Dinge so darzustellen, wie sie sie sah oder sehen wollte. Dass sie ihm aus dem Stift kreuzunglückliche Briefe geschrieben, wie unglücklich sie sich da fühlte, wie nutzlos, wie fehl am Ort zwischen all den alten Damen, sie mit ihrer Tatkraft — wie sie sich nur danach sehnte, dem geliebten Bruder eine schöne Häuslichkeit zu bereiten, das alles hatte sie vergessen. Aber Sanitätsrat Keunecke war viel zu feinfühlig und viel zu schwach, um einmal bei einer richtigen Gelegenheit damit aufzutrumpfen. Seit seiner schweren Erkrankung vor zwei Jahren, dem leichten Schlaganfall, fürchtete er nichts so sehr wie Aufregungen.

      „Du musst nicht böse sein, Sidonie“, bat er friedfertig. „Ich bin nun eben manchmal ein bisschen nervös.“

      „Ich darf aber keine Nerven haben“, kam es spitz von Sidonie. Wütend klapperte der silberne Kaffeelöffel in der Tasse. „Männer nehmen eben niemals Rücksichten.“

      „Nein — Männer sind die grässlichsten, egoistischsten und dümmsten Geschöpfe von der Welt. Ich gebe dir alles zu, aber jetzt lass mich meine Zeitung lesen.“

      „Ach, ich rede dir also zu viel. Für heute kommt kein Wort mehr über meine Lippen.“

      Wütend bestrich Sidonie ihre Brötchen.

      Wenn sie doch einmal darin Wort halten wollte!, dachte Sanitätsrat Keunecke und schlug das Morgenblatt auf.

      „Empörend!“ kam es plötzlich von Sidonie. Sie hatte ihre illustrierten Zeitungen durchgelesen und schlug mit der Hand auf ein Blatt. „Sieh nur, Heinrich, ist das nicht schamlos?“

      Ergeben legte Sanitätsrat Keunecke den Leitartikel der Morgenzeitung, in den er sich vertieft hatte, beiseite. Also redete Sidonie doch schon wieder.

      „Was ist denn schamlos?“

      „Hier, sieh mal!“ Kampfbereit drückte Sidonie ihr Augenglas fester auf ihre spitze Nase: „Die Damenmannschaft für den Ruderwettkampf zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland ist nun bestimmt worden. Unten im Kreise die vier ausgewählten Sportlerinnen mit ihrem Trainer.“

      „Na, und?“ fragte Sanitätsrat Keunecke. Er hatte nicht das geringste Interesse für Rudern und wusste auch nicht, dass Sidonie irgendwelche sportlichen Neigungen hatte. Im Gegenteil, das war ja der Zankapfel zwischen ihr und dem Kinde, Herdith, gewesen.

      Er zog das Blatt näher heran. In einem Ovalbilde sah man vier junge Mädchen im Ruderdress auf einem Bootsrand sitzen, in ihrer Mitte, von zweien umschlungen, einen jungen Mann, gleichfalls im Ruderanzuge. Darunter stand:

      Skull-Vierer „Frohe Fahrt“.

      Die Damen Marion Karnau, Kläre Grasshoff, Tina Lüders, in der Mitte Fräulein Herdith Assmussen, Schlagmann des Skull-Vierers neben dem erfolgreichen Trainer Jobst Reichardt.

      „Na, und?“ fragte Sanitätsrat Keunecke noch einmal, jetzt mit etwas zitternder Stimme.

      Da war das Kind, Herdith! Wie fröhlich sie aussah! Wie hübsch selbst auf diesem unscharfen und unretuschierten Bild!

      Ja, so war sie. Hübsch, sonnig und jung. Wie lieb hatte er sie gehabt!

      Warum war sie gegangen? Warum hatte sie sich nicht mit Sidonie vertragen können? Das hätte er eigentlich zum Dank für alles, was er für sie getan, erwarten können. Ach, nicht daran denken! Da kam schon wieder diese Beklemmung. Er fuhr sich mit der Hand zum Herzen.

      Aber diesmal sah Sidonie Tessel es nicht. Empört starrte sie auf das Bild. Ihre Nase schien noch spitzer zu werden.

      „Deine Nichte — nein, noch schlimmer, meine Nichte in einer Zeitung und in solchem Zustande! Halbnackt, einen fremden Mann umarmend! Es ist unerhört. Was wird nur Ihre Exzellenz im Johanna-Stift sagen, wenn sie dies Bild sieht?“

      Sanitätsrat Keunecke lag es auf der Zunge, zu erwidern, dass seine Schwester Sidonie sich in der Zeit ihres Stiftaufenthalts wie Hund und Katze mit der alten Exzellenz gestanden hatte, einer reizenden alten Dame übrigens. Aber das passte auch so zu Sidonies Art, Menschen, die sie sonst nicht leiden konnte, zu Kronzeugen anzurufen, wenn es ihr in den Kram passte.

      „Aber liebe Sidonie, von halbnackt kann wohl nicht die Rede sein! Das ist ein Rudertrainingsanzug, wie alle Ruder und Ruderinnen heutzutage ...“

      „Wenn ich sage, es ist halbnackt, dann ist es halbnackt! Oder genügt es dir noch nicht? Nackte Beine, nackte Arme, Hosen — — wenn ich einem Menschen in meiner Jugend je so unter die Augen gekommen wäre!“

      „Meines Wissens hast du ja niemals Sportneigungen wie Schwimmen oder dergleichen gehabt.“ Der alte Herr konnte sich nun doch seinen Spott nicht verkneifen. „Also lag auch keine Veranlassung dazu vor, liebe Schwester.“

      „Verteidige du nur noch die moderne Zeit, das steht dir gerade an! Wenn du nicht immer so für alle Verrücktheiten der modernen Jugend gewesen wärst, dann wäre deine Nichte, oder vielmehr meine Nichte, vielleicht auch nicht so ein überspanntes, unleidliches Mädchen geworden.“

      „Gesegnete Mahlzeit!“

      Sanitätsrat Keunecke stand auf.

      „Ja, bist du denn schon satt? Der Kollege Hübner hat doch ausdrücklich gesagt, du sollst ordentlich essen, damit du wieder zu Kräften kommst.“

      „Der Kollege Hübner hat vor allen Dingen gesagt, ich soll mich nicht aufregen.“

      „Ja, wer regt dich denn auf?“ fragte Sidonie fassungslos. Da fuhr sie zurück und jagte Waldi aus seinem Halbschlaf auf, den er nach erledigter Knochenmahlzeit unter dem Tisch gehalten.

      „Du!“ brüllte Sanitätsrat Keunecke; wahrhaftig, er brüllte es. Schrie es, stopfte sich seine Zeitungen unter den Arm und verliess den Raum.

      Sidonie wollte ihm nach. Aber Waldi, in dem instinktiven Gefühl, wie Hunde es für ihren Herrn haben, spürte: Nun war seine Stunde gekommen. Er fuhr gerade unter dem Tisch hervor, als Sidonie ihrem Bruder nach wollte. Sidonie, kurzsichtig, stiess an ihn an; es tat nicht weh, aber Waldi heulte grässlich auf.

      „Du abscheuliches Vieh!“ Sidonie fuhr zurück, dann holte sie zum Schlage aus. Aber Waldi war schneller, er raste mit fliegenden Ohren an seiner Feindin vorüber; Herrchen hatte ja die Tür offen gelassen. Ehe Sidonie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, war Waldi auf und davon.

      Und in Sanitätsrat Keuneckes Arbeitszimmer wurde der Schlüssel energisch im Schloss herumgedreht.

      Waldi aber verzog sich befriedigt in die Küche. Bei Martha, dem kleinen, verschüchterten Hausmädchen, fand er immer Verständnis, Freundlichkeit und etwas, was er am meisten schätzte: etwas zu fressen.

      Sidonie Tessel aber begab sich, in tiefster Seele gekränkt, zu ihrer augenblicklichen Busenfreundin, Frau Mathiess nebenan, um ihr von diesem Auftritt zu berichten. Es war wirklich unerhört, diese Affenliebe zu Herdith machte den guten Heinrich immer noch verdreht! Dabei war Herdith in Sidonies Augen ein Schandfleck der Familie. Konnte sie nicht dankbar sein, dass sie, die elternlose Waise, hier im Hause des Onkels ein Unterkommen gefunden? Hatte sie nicht die Pflicht gehabt, bescheiden und ohne viel zu mucksen hier haustöchterliche Pflichten zu übernehmen? Hätte sie nicht froh sein müssen,


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