Erster Preis: Du!. Lisa Honroth Löwe

Erster Preis: Du! - Lisa Honroth Löwe


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sie fühle sich überflüssig, da das Hauswesen ja doch nur von Tante Sidonie geleitet werde und überdies Martha vorhanden wäre. Um nur ein bisschen Staub zu wischen, zu stopfen und Handarbeiten zu machen, dazu fühle sie sich zu jung und tatkräftig.

      „Das Kind hat ganz recht“, hatte Heinrich Keunecke erklärt und erlaubt, dass Herdith auf die Handelshochschule ging, Vorlesungen hörte, Sprachkurse besuchte und ihr Examen machte.

      „Du wirst ja sehen, was du davon hast“, hatte Sidonie prophezeit. Ihr lag nichts daran, dass die Nichte aus dem Hause ging. Sie brauchte immer Menschen um sich herum, die sie tyrannisieren konnte. Im Stift hatte sie das mit mehr oder weniger Erfolg versucht. Nun war ihr Bruder, krank und von Natur gegen einen robusten Menschen schwach, ein willkommenes Objekt ibrer krankhaften Herrschsucht.

      Aber Herdith, die nach Tante Sidonies Meinung eigentlich verpflichtet gewesen wäre, sich allen Launen der Tante zu fügen, hatte sich keineswegs einschüchtern lassen. Es war zu immer heftigeren Kämpfen gekommen, die Herdith aus Rücksicht auf Onkel Heinrich möglichst vor ihm zu verbergen trachtete. Aber sie sah ein, es ging auf die Dauer nicht. Ihre und Tante Sidonies Ansichten platzten immer wieder aufeinander.

      „Ein junges Mädchen tut dies nicht — ein junges Mädchen tut das nicht“, damit hatte Sidonie immer wieder versucht, Herdiths gesunden Drang nach Selbständigkeit zu unterdrücken. Ein paar Dinge waren dazugekommen, die Heinrich Keunecke bis jetzt nicht wusste, und die Herdith ihm rücksichtsvoll verschwiegen hatte. Aber eines Tages, nach dem bestandenen Sprachlehrerinnenexamen, hatte sie Onkel und Tante vor die Tatsache gestellt, sie ginge nach Berlin. Sie hätte eine Stellung als Sekretärin.

      Heinrich Keunecke, der nicht wusste, was sich während seiner Krankheit abgespielt hatte, war in tiefster Seele getroffen. Herdith war der einzige Lichtblick in seinem Hause, das seit Sidonies Einzug zu einer Stätte des Unfriedens geworden. Zum ersten Male, dass er scharf gegen seinen Liebling wurde.

      „Entweder du bleibst hier, oder wir sind geschiedene Leute“, hatte er ihr erklärt.

      Aber Herdith hatte, bleich, traurig, aber fest, immer wieder das eine gesagt: „Es muss sein, Onkel. Ich kann nicht hierbleiben, glaub es mir! Es ist besser für uns alle, wenn ich gehe.“

      Und dann war sie gegangen. Heinrich Keunecke hatte sich eingeschlossen an diesem Morgen, als sie fort wollte. Er hatte ihr nicht Lebewohl gesagt. Wie eine Fremde war sie aus dem Hause gegangen.

      So blieb denn Sidonie Siegerin. Von Tag zu Tag wartete Sanitätsrat Keunecke, dass Herdith ihm schreiben würde, aber keine Zeile kam, obwohl Herdith wusste, der Onkel war noch bettlägerig und elend. Und Sidonie triumphierte. Immer wieder liess sie spitze Bemerkungen fallen über die abgrundtiefe Undankbarkeit der jungen Menschen von heute. Und Heinrich Keunecke litt schweigend.

      Aber immer öfter gingen seine Gedanken zu Herdith. Wie war es hell und sonnig im Hause gewesen, als sie hier war mit ihrem lieben sonnigen Lächeln! Ob sie auch keine Not litt? Die kleine Rente, die sie von der Mutter her hatte, konnte nicht reichen, um ihr einigermassen das Leben in der grossen Stadt zu sichern. Was sie verdiente, ahnte er nicht. Wenn sie nicht das Bedürfnis hatte, ihrem alten Onkel einmal von sich zu berichten — schliesslich hatte man auch seinen Stolz! —

      Aber je länger das Kind fort war, um so schwerer war es für den alten Mann, der nicht einmal mehr seine Praxis so wahrnehmen konnte, wie er es gewohnt war. Er würde sich doch zu einem Assistenten entschliessen müssen. Sonst ging einem nach und nach die ganze Praxis verloren, oder man ruinierte sich das bisschen Gesundheit, das man sich mühsam wieder erworben hatte.

      Ach, alles wurde schwer, wenn man alt wurde und einsam war und von den Launen von Menschen abhängig. Dem alten Sanitätsrat Keunecke war jetzt recht wehmütig zumute. Er sass in seinem Lehnstuhl am Fenster. Die Zeitung lag ihm im Schoss. Er sah darüber hinweg in den frühlingshellen Garten. Vorhin hatte er sich noch so über das erste Werden und Blühen gefreut. Jetzt war ihm alles vergällt. Auch die Zeitung war nicht dazu angetan, ihn fröhlicher zu machen. Ueberall Sorgen, Unruhe, ein Durcheinander auf der Welt. Am besten wäre es schon, man wäre bei der Krankheit neulich geblieben. Was hatte man schliesslich zu erwarten? Wieder neue Krankheit, ein Alter in Einsamkeit. Sidonie wurde auch immer schrullenhafter. Sicher würde sie wieder ein paar Tage gekränkt sein. Und er wusste nicht, was schlimmer war: wenn sie von früh bis abends lamentierte und an ihn herumerzog — oder wenn sie mit diesem schweigenden, verkniffenen Gesicht herumging und förmlich eine Eisatmosphäre um sich verbreitete, in der es wie von lauter spitzen Eisnadeln zu stechen schien.

      Fünftes Kapitel.

      Zum ersten Male seit Wochen hatte sich der Frühlingshimmel über Berlin vormittags bezogen. In der Nacht hatte ein heftiger Westwind sich aufgemacht und schwere Wolken vom Ozean mit herübergebracht. Vormittags flaute der Wind ab, die Wolken hingen nun niedrig und schwarzgrau über der Stadt. Die Passanten auf der Strasse gingen schneller. Jeden Augenblick konnten die Wolken da oben brechen und ihre Regenfluten über die Stadt ausgiessen.

      Da fielen auch schon die ersten Tropfen, und auf einmal schüttete es wie ein Wolkenbruch in prasselnden Fluten hernieder. Im Augenblick waren die Strassen wie leergefegt. Das war ein böses Ereignis für all die jungen Mädchen und Frauen, die ihre neuen Frühjahrskostüme gerade spazieren führten, aber für die Autodroschken ein willkommener Zwischenfall. Sonst standen sie in langen Reihen und konnten Stunde um Stunde auf Fahrgäste warten. Jetzt waren sie im Augenblick alle besetzt, rollten durch das Regengrau auf den feucht glänzenden Strassen entlang. Das Wasser spritzte hoch auf unter ihren Rädern bis zu den Bordsteinen. Die wenigen Passanten brachten sich ängstlich vor den Schmutzspritzern in Sicherheit.

      Die Kaffeehäuser und Restaurants waren im Augenblick überfüllt. In den Toreingängen stauten sich die Menschen.

      Ein junger Mann in schäbigem, abgetragenem Regenmantel und einem Hut, dessen Band abgegriffen und glänzig war, zögerte einen Augenblick. Dann trat er schnell in ein Kaffeehaus ein, das in einer Hauptstrasse des Zentrums gelegen war. Es hatte grosse, glänzende Spiegelscheiben. Man sah auf weiss gedeckte Tische mit elegantem Gerät. Tiefe Klubsessel standen um die niedrigen Tische. Die Wände waren mit roten Seidentapeten bespannt. Das Ganze machte einen vornehmen und soliden Eindruck.

      Das Publikum freilich war einigermassen merkwürdig. Es war eine eigentümliche Mischung von protziger Eleganz und einer gewissen abgerissenen Saloppheit. Neben Herren in den neuesten, modischen Frühjahrsanzügen sassen andere, deren Anzüge schon ziemlich mitgenommen waren oder zeigten, dass sie als die billigsten irgendwo „von der Stange“ gekauft waren. An den Kleiderhaken hingen protzige Pelze. Doch konnte man deren Inhaber in Verdacht haben, dass sie diese jetzt bei der Frühlingswärme trugen, weil sie keinen andern Mantel hatten. Daneben hingen fadenscheinige Ulster.

      Alle Tische waren voll besetzt. Die verschiedensten Sprachen schwirrten durcheinander. Neben deutsch hörte man hauptsächlich polnisch und russisch, auch die breiten Laute des Holländischen klangen dazwischen. Auffallend viele der Gäste trugen protzige Brillantringe an den Fingern. Alle Männer hier schienen sich irgendwie zu kennen. Immer wieder stand einer von einem Tisch auf, begab sich zu einem andern und mischte sich in das leise und lebhaft geführte Gespräch. Ab und zu trat einer von den Männern mit einem andern näher an eine der grossen Lampen heran. Aus kleinen Schächtelchen oder Seidenpapier wurden Steine herausgeholt, die im Lichte aufsprühten, wurden unter die Lupe genommen, hin und her gewendet. Und dann ging der Handel los.

      Das Kaffeehaus war der Treffpunkt einer gewissen Sorte internationaler Juwelenhändler. Jedoch würde man die wirklich soliden, grossen Geschäftsleute hier vergebens gesucht haben. In all den verschiedenen Gesichtern, massigen wie schmalen, hellen wie dunklen, lag irgend etwas Eigentümliches: ein Zug von Schlauheit, Unsolidität und Skrupellosigkeit. Frauen sah man nur vereinzelt. Ein paar wirkliche Damen hatten sich bei dem Wetter hierher geflüchtet und blickten etwas erstaunt auf die eigentümlichen Gäste des Kaffeehauses. Unaufhörlich rannten die Kellner mit gefüllten Tabletts durch das grosse Lokal. Der Rauch lag dick und trübe im Raum. Die Lampen versuchten vergeblich das Grau des Regentags völlig vergessen zu lassen.

      Der junge Mann blieb einen Augenblick vor dem Büfett stehen. Er grüsste mit einem


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