Rien ne va plus. Katalin Sturm
Tagebuch Claudia
»Ich bekenne: Das Herz klopfte mir stark, und ich war nicht kaltblütig; ich glaubte zuverlässig und sagte mir das schon lange mit aller Bestimmtheit, dass es mir nicht beschieden sein werde, aus Roulettenburg so ohne Weiteres wieder fortzukommen, dass sich da mit Sicherheit etwas zutragen werde, was für mein Lebensschicksal von tiefgehender, entscheidender Bedeutung sei.«
(Fjodr Michailowitsch Dostojewski »Der Spieler«)
Liebster Sascha,
ich hätte noch so vieles gern mit dir erlebt: Vor dem Kamin sitzen mit einem Glas Wein, ein Klavierkonzert hören, Lesen oder Schweigen. Durch buntes raschelndes Laub laufen, den Kindern beim Drachensteigen zuschauen und aus der Kälte des Herbstes in ein Café gehen, um dort heiße Schokolade oder Tee mit Rum zu trinken. Ausschlafen und dann gemütlich Frühstücken. Eine kitschige DVD ansehen und mich hinterher von dir trösten lassen. So vieles hätte ich gern noch mit dir erlebt, Liebster – ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich dich einmal, ein erstes und ein letztes Mal so nenne – doch es soll nicht sein.
Deshalb hältst du jetzt diesen Brief in deinen Händen. Ich finde es dem Anlass angemessener, auf die alte Weise und nicht auf der Tastatur diese letzten Worte an dich zu schreiben. Und ich schicke dir mein Tagebuch, denn ich weiß nicht, wem ich es sonst vermachen sollte. (Ich hoffe, du bekommst wegen dieses Päckchens keinen Ärger mit deiner Frau!)
Es bleibt mir nur, dir zu danken. Du hast mir in den letzten Monaten mehr gegeben, als je ein Mensch in meinem ganzen Erwachsenenleben zuvor. Durch dich habe ich mich noch einmal jung gefühlt. Als begehrenswerte Frau. Ganz. Bitte sei nicht traurig. Ich bin sicher, es ist das Beste so. Für mich und vor allem für dich. Behalte mich in guter Erinnerung. Wenn es da drüben so etwas wie ein Weiterleben gibt, wirst auch du bis in alle Ewigkeit einen Platz in meinem Herzen haben.
Für immer die Deine! Claudia.
Ich las den Brief, doch ich verstand nicht, was sich hinter diesen Worten verbarg. Claudia, tot? Das konnte nicht sein! Klar war mir aufgefallen, dass sie in den letzten zwei Tagen nicht auf meine Nachrichten geantwortet hatte und auch telefonisch nicht erreichbar gewesen war. Doch solche Auszeiten hatte sie sich zwischendurch immer mal gegönnt.
»Ich will nicht zu sehr von dir abhängig werden«, hatte sie als Erklärung angegeben, wenn sie wieder aus der Versenkung aufgetaucht war. Deshalb hatte ich auch diesmal keinen Verdacht geschöpft. Auch wenn mir, wie jedes Mal, wenn sie auf Tauchstation gegangen war, ihre Nachrichten gefehlt hatten. Und wie! Es war, als sei ein Band gerissen, das mich mit einer Intensität an diese Frau geknüpft hatte, die mich zunehmend beunruhigte. Denn das, was ich zuerst von dieser Verbindung erwartete, war viel weniger gewesen, als das, was ich schließlich bekommen hatte. Konnte es auch ein Zuviel geben?
Mit zitternden Händen nahm ich das schwarze Notizbuch aus dem Umschlag, das zusammen mit dem Brief in meinem Kasten gelandet war, und zog das Gummi herunter. Ich schlug es auf. Die Schrift darin war dieselbe wie auf dem weißen Papier, auf das sie ihre letzten Worte gesetzt hatte. Bei diesem Gedanken musste ich schlucken. Ich blinzelte, um den Tränenschleier zwischen den Wimpern zu entfernen. Ein Tropfen fiel auf die erste Seite und ein Buchstabe begann zu zerlaufen. Ein E. Sie musste mit Tinte geschrieben haben. Leicht nach rechts geneigt, gleichmäßig, mit schön geschwungenen Ober- und Unterlängen.
Als ich das Datum auf der ersten Seite sah, ohne ein Vorwort oder Ähnliches, war mir klar, dass sie dieses Tagebuch schon am Folgetag unseres Kennenlernens begonnen hatte. Und ein Film begann vor meinem inneren Auge abzulaufen.
Schicksalhafte Begegnung
Es war ein Bankjubiläum gewesen, zu dem ich mit drei meiner Kollegen und dem mobilen Casino nach Frankfurt gekommen war. Im Vorfeld hatte ich schon mit ihr gemailt und telefoniert, denn sie war für die Organisation der Veranstaltung verantwortlich gewesen. An diesem Abend hatten wir uns das erste Mal gegenübergestanden, noch ein paar letzte Details zur Zeitplanung und zum Ablauf des Abends besprochen. Ich hatte sie als Businessfrau wahrgenommen, in ihrem schwarzen Kostüm mit weißer Bluse darunter, der Rock eine Handbreit über dem Knie endend und die Füße in Pumps mit halbhohem Absatz. Sie war größer als ich, was nicht sehr oft vorkam, doch ihre Figur hatte ich nur beiläufig bemerkt. So, wie ich Frauen, die an meinem Tisch spielten, stets beiläufig mit einem raschen Blick wahrnahm. Hatte diese Dame etwas Besonderes an sich, eine Ausstrahlung, auffallend schöne Hände oder einen besonders lasziven Augenaufschlag? Ich war mittlerweile ein Meister im Einschätzen dessen, was sich hinter der aufgehübschten Fassade der elegant gekleideten Frauen verbarg. Einsamkeit? Leere? Sexuelle Unerfülltheit? Manchmal unterhielt ich mich in den Pausen mit meinen Kollegen über die ein oder andere Spielerin, und wir tauschten unsere Vermutungen über deren Leben aus. Welcher Gruppe war sie zuzuordnen: der der gelangweilten Ehefrauen, die das hart erarbeitete Geld ihres Mannes verspielten, um ihn für seine Abwesenheit und Kälte zu strafen? Oder der der Zockerinnen, denen es ein körperliches Kribbeln der Erregung bescherte, wenn sie die Kugel beobachteten, die im Roulettekessel unbeeinflussbar rollte? Es war eine Herausforderung für mich und ein Training meiner Menschenkenntnis. Außerdem machte es Spaß und gab den ansonsten recht gleich verlaufenden Abenden und Nächten eine gewisse Spannung.
Claudia nahm