Sehnsucht Australien. Jürgen Bertram

Sehnsucht Australien - Jürgen Bertram


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Werner Sarny

      Werner Sarny stammt, wie er sagt, aus »sehr, sehr armen Verhältnissen«. Bevor er 1959 nach Australien auswandert, lernt er Schuhmacher, das Handwerk seines Vaters. Er übt diesen Beruf auch für einige Jahre in einer Fabrik in Melbourne aus und stößt dabei auf eine Mangelerscheinung der Landesmode: Es gibt in diesem damals sehr prüden Land keine Frauenschuhe mit hohen Absätzen. Ihre Produktion anzustoßen, ist Werner Sarnys erste innovatorische Tat auf australischem Boden.

      1963 setzt er sich in seinen VW-Käfer und startet eine Reise rund um den Kontinent. Anschließend will er nach Europa zurückkehren. In Cairns, einer von Melbourne etwa 3500 Kilometer entfernten Küstenstadt im Norden des Bundesstaates Queensland, geht ihm das Geld aus. Wie er sich aus dieser Notlage befreit, schildert er später einem Chronisten: »Nun gab’s dort keine Schuhfabrik, also suchte ich mir den nächstbesten Job. Den fand ich in einer Fleischfabrik. Man fragte uns Bewerber, ob jemand mit dem Messer umgehen könne. Klar doch, dass ich die Hand hob, alle Schuhmacher benutzten Messer. Und plötzlich war ich Metzger.«

      Es ist eine Tätigkeit, die Werner Sarny auch auf der Weiterreise über Wasser hält und die er schließlich über einen längeren Zeitraum in Katherine ausübt, damals ein Zentrum der australischen Fleischfabrikation. Als er seine Tour in Richtung Westen fortsetzen will, bleibt sein Auto rund hundert Kilometer hinter Katherine liegen. Es dauert zwei Monate, bis Ersatzteile eintreffen. Um sie bezahlen zu können, heuert Werner Sarny wieder als Metzger an. Er steigt schnell zum Vorarbeiter auf, lernt eine Australierin kennen, heiratet sie – und so wird zur neuen Heimat, was als Transitstation gedacht war. Einen Nebenverdienst erwirbt er sich, indem er ausgestopfte Krokodile an die ersten Touristen verkauft, die diese abgelegene Region ansteuern. Die gefährlichen Reptilien fängt er selbst.

      Mit dem Kauf eines Motels legt das Paar 1966 den Grundstein für eines der renommiertesten Reiseunternehmen des Kontinents. Es folgen, unter anderem, eine Tankstelle, eine Backpacker-Unterkunft, ein Touristikbüro, ein Busunternehmen, eine Farm. Und: Werner Sarny erkennt und nutzt die wilde Schönheit einer Sandsteinschlucht, durch die, von Wasserfällen gespeist, der Katherine-Fluss gurgelt. Bootsausflüge durch die dramatische Felslandschaft des Katherine Gorge gehören heute zu den touristischen Höhepunkten Australiens und sind auch eines der Ziele, zu denen die Passagiere des neuen transkontinentalen Zuges »The Ghan« während ihres vierstündigen Aufenthalts in Katherine geführt werden.

      Der Fluss, der sich so lange als Segen erwies, wird für den Ort und seinen Ehrenbürger Werner Sarny 1998 zum Fluch. Zwei Meter tritt er in der Regenzeit über die Ufer und setzt die 7000-Einwohner-Gemeinde komplett unter Wasser. Zwei Menschen kommen ums Leben, Dutzende werden verletzt. Bilder von der Flut gehen um die ganze Welt. Der materielle Schaden treibt viele Familien in den Ruin.

      Auch Werner Sarny erleidet durch das Hochwasser einen Verlust in Millionenhöhe. In einer Gegend, in der man Geschäfte noch per Handschlag besiegelt, vergisst man schnell, so der Unternehmer, »in Versicherungsverträgen das Kleingedruckte zu lesen«. Dass seine Firma dieses Desaster verkraftet, lässt ahnen, welch ein Vermögen sie in drei Jahrzehnten erwirtschaftet hat und warum man ihren Eigentümer den »König von Katherine« nennt.

      Ein Taifun, der, wie in Darwin, eine Stadt in eine einzige Ruine verwandelt, eine Flut, die, siehe Katherine, ein Gebiet von der Größe der Bundesrepublik von der Außenwelt abschneidet – überall im tropischen Norden ist die Konfrontation mit den Urgewalten der Natur ein Bestandteil der Existenz. Fotos von Bürgern, die sich in Schlauchbooten durch die Landschaft bewegen, oder von Viehherden, von denen nur noch die Köpfe aus dem Wasser ragen, gehören in den Kneipen, Krämerläden oder Tankstellen zum Standarddekor. Im Zentrum von Katharine informiert seit 1998 ein Schaukasten darüber, wie man sich bei einer Flut angemessen verhält: »Halten Sie jederzeit Schlafsäcke, Zelte, warme Kleidung und batteriebetriebene Taschenlampen bereit. Überlegen Sie als Erstes, ob Sie jemanden in höher gelegenen Gegenden kennen. Und denken Sie daran, dass auch Ihr Haustier nach einer solchen Katastrophe unter Verwirrung und Angstzuständen leidet.«

      Trotz allem: Werner Sarny zieht die gefährdete Weite Australiens der sicheren Enge Europas vor. Auch für diesen Auswanderer hat sich der Traum erfüllt, selbstständig zu werden, statt abhängig zu bleiben. Und so fürchtet er den Stillstand mehr als die nächste Flut. Mit 54 Jahren in Frührente zu gehen, wie seine in Österreich lebende Schwester, das wäre für ihn, wie er sagt, »der reinste Horror« gewesen. »In diesem Alter habe ich noch neunzig Stunden in der Woche für mein Unternehmen gearbeitet.«

      Seine markantesten Erinnerungen an einen Besuch in Wien kreisen um ein sehr alltägliches Problem: die ewige Suche nach einem Parkplatz. »In der Innenstadt hieß es dauernd: ›Hier können Sie nicht stehenbleiben!‹. Als ich mein Auto mal am Flughafen abstellen wollte, bin ich mehr als zwei Stunden vor meinem Flug losgefahren. Aber das Parkhaus, für das man fünfzig Euro pro Tag bezahlen musste, lag zwei Kilometer von der Abflughalle entfernt. Meinen Flug habe ich verpasst.«

      Werner Sarnys neueste Errungenschaft sind zehn Schulbusse, die jeden Tag Kinder in einem Umkreis von hundert Kilometern transportieren. Als er sie uns mit dem Stolz des Patriarchen präsentiert, verlieren sich die Fahrzeuge auf einem mehrere Fußballfelder großen Areal in der Nähe seines Bungalows. Probleme mit Parkplätzen gibt es nicht in Katharine – es sei denn, das Städtchen steht mal wieder unter Wasser.

      5 »Hier ist einfach gar nichts«

      Als Köchin in den Kimberleys

      Warum, so fragt man sich auf der Fahrt von Katherine in Richtung Westen, hat man Termiten nicht längst einen Architekturpreis verliehen? Mühelos kombinieren ihre bis zum Horizont reichenden, in einem feurigen Rot leuchtenden Siedlungen das Eckige mit dem Runden, das Filigrane mit dem Wuchtigen, das Gestreckte mit dem Steilen. Einige der meist mannshohen Bauten erinnern mit ihren Türmen, Erkern und Simsen an kunstvolle Kathedralen. Da es wohl kaum ein religiöser Impuls war, der die Insekten zu dieser Meisterleistung trieb, belegt ihr Werk, dass Erhabenes auch dem Instinkt entspringen kann.

      Sogar dem Feuer, das plötzlich überall in der Hügellandschaft an unserem Highway lodert, halten die Behausungen stand. Wo der Wind in den ausgetrockneten Busch fährt, sprühen Funken auf, die wie irre gewordene Glühwürmchen vor uns her hüpfen. Die schwarzen Rauchschwaden, die in der Ferne aufsteigen, lassen auch unsere Fantasie schwarzmalen. Ist die Tatsache, dass uns seit einer halben Stunde nicht ein einziges Auto entgegenkam, eine Indiz für die Sperrung der Strecke? Auch die beiden Kolosse, die sich röhrend aus dem Rauch schälen, verschaffen keine Entspannung. Na klar, solche gigantischen Lastzüge packen das – aber wir?

      Erst als wir die Trupps entdecken, die immer wieder ordnend an den Brandherden eingreifen, wird uns klar: Es handelt sich um gezieltes »Backburning«, eine von den Aborigines erfundene Methode, die verhindern soll, dass ein Feuer in der Hitze des Hochsommers vom Unterholz auf größere Flächen überspringt.

      Ein paar Dutzend gedrungene Häuser und Hütten mit Parabolspiegeln auf den Dächern, ein »Bottle Shop«, auf dessen Parkplatz Aboriginefamilien die Alkoholration für den Abend verstauen, hier und da der rührende Versuch, einem Beet ein paar Blümchen abzuringen – das also ist Halls Creek, jenes Kaff, in dem die Temperatur im Sommer auf Grad klettern kann und das seine Bewohner in sarkastischer Selbstverachtung »Hell’s Crack« nennen. »Höllenloch«, bedeutet das frei übersetzt.

      Die Nationalstraße Nummer eins, auf den ersten 5000 Kilometern unserer Recherchenreise unsere wichtigste Leitlinie, wird in diesem Abschnitt von einem Rudel streunender Köter beherrscht. Dringt, was nicht häufig vorkommt, ein fremdes Fahrzeug in ihr Revier, verwandeln sie sich in kläffende Furien.

      Der Kampfhund, der sich vor dem Eingang unseres Motels ausgestreckt hat, befindet sich, gottlob, im Welpenalter. Tapsig schlägt er mit der Pfote immer mal wieder nach Kakerlaken, die seinen Attacken allesamt entkommen und selbst dann nicht in Gefahr geraten, wenn sie auf ihrer Flucht in den Swimmingpool fallen. Dessen Oberfläche deckt das faulige Laub eines ganzen Herbstes.

      Mit Vierradantrieb ausgestattete Pritschenwagen vor den Zimmertüren verweisen auf die Stammgäste dieser Herberge: Handwerker, die in den nördlichen Randzonen des Bundesstaates Western Australia defekte Zäune, Stromleitungen,


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