Die Reichen. Artur Hermann Landsberger
es, die die Güte dieses Mannes zu spüren bekamen. Außer den Armen der Stadt, in Verbänden und Vereinen zusammengeschlossen, unzählige Familien, für die er sorgte, ohne daß es nach außen in die Erscheinung trat. Die Villa glich einem Blumenhain. Riesenkörbe mit kostbaren Blumen standen neben armseligen Töpfen und bescheidenen Sträußen.
Der Alte hatte die Reden der Deputierten über sich ergehen lassen wie etwas, was nicht abzuwenden war. Er antwortete meist nur mit einem Händedruck. Ein einziges Mal, als ein armes Kind aus der Menge der Gratulanten ohne jede Scheu heraustrat, einen armseligen Tulpentopf überreichte und sagte:
„Mutti liegt zu Bett und läßt grüßen — der Topf braucht viel Wasser — er blüht schon das dritte Jahr bei uns“, traten dem Alten Tränen in die Augen. Er beugte sich zu dem Kinde herab, küßte es und sagte:
„Wenn mein Leben reich und gesegnet war, dann danke ich es dir und deiner Mutter und allen, denen ich helfen durfte.“
Als er dann am Abend an seinem Schreibtisch saß, sagte er zu Jacob, seinem Diener, der ihn weit über ein Menschenalter betreute:
„Das war ein schöner Tag.“
„Gewiß, Herr Baron“, erwiderte der und legte dem Alten einen Plaid über die Beine. „Aber wieso haben die alle heute schon gratuliert? Der Herr Baron haben doch erst morgen Geburtstag.“
„Der Tag morgen gehört meiner Familie.“
Der Diener, der noch auf der Erde kniete und eben die Füße des alten Herrn in die Decke wickelte, sah verdutzt auf und fragte:
„Die Herren Söhne — kommen aus Berlin?“
„Aber nein! Die Jungens haben zu tun. Und ich will auch nicht, daß sie meinetwegen eine so weite Reise machen. — Aber“ — und er wies auf eine schwere, alte Schatulle, die er nicht ohne Mühe aus dem Schreibtischfach genommen hatte — „hier bewahre ich mein Leben auf! — Und nun räumen Sie mal den Tisch ab — und dann wollen wir alles vorbereiten.“
„Wie im vorigen Jahr“, sagte der Diener.
„Sehen Sie, Jacob, Sie haben ein gutes Gedächtnis — genau wie im vorigen Jahr. Dieselben alten silbernen Leuchter — die schon die Großeltern gebrannt haben — und dann die Photographien.“
„Die der seligen Frau Baronin steht schon da.“
„Das genügt nicht! Da war sie eine alte Frau. Ein Jahr, bevor sie Gott zu sich nahm. — Nein, Jacob, da drüben die Bilder — als Braut — und als junge Mutter — und dann der strenge Herr Papa, der Hofbankier — und die gute, alte Mutter vor allem — alle müssen sie um mich sein, wenn ich die Jugend noch einmal durchlebe.“
Er öffnete, während Jacob die Bilder holte, die Schatulle und entnahm ihr ein Dutzend Päckchen mit Briefen, die mit seidenen Bändern zusammengehalten waren. Zärtlich fuhr er über jedes Päckchen mit der Hand und legte es dann vor sich auf den Tisch.
Jacob brachte die schweren alten Leuchter und sammelte die Bilder, die in verschiedenen Zimmern standen. Als er die Kerzen an den Leuchtern anzünden wollte, wehrte der Alte ab und sagte:
„Nein, das mache ich. — Die müssen die ganze Nacht brennen — bis morgen abend. — So, und nun, Jacob, gehen Sie — oder nein, den Topf mit den Tulpen, den das kleine Mädchen brachte, den stellen Sie mir noch auf den Tisch.“
Er ordnete die Bilder seiner Frau dem Alter nach — und vor jedes legte er ein Päckchen Briefe — rechts davon stellte er die Bilder der Eltern — das der Mutter nahm er immer wieder auf, führte es dicht an das Gesicht, schloß die Augen, lächelte und stellte es dann — nachdem er zögernd das Bild seiner Frau ein wenig zur Seite gerückt hatte — in die Mitte.
Als Jacob den Topf mit den Tulpen brachte, brannten die Kerzen — und der Alte saß an dem Tisch — über einen Brief gebeugt — sah und hörte ihn nicht.
Auf den Zehen ging Jacob hinaus — schloß die Tür nicht, sondern ließ sie angelehnt — setzte sich auf den Flur — mit dem Rücken zur Tür — verfolgte jedes Geräusch im Zimmer und hielt sich wach — ohne daß der Alte es wußte — um da zu sein, wenn man ihn brauchte. — —
III.
Es mochte Mitternacht sein, als in der Villa die Türglocke ging und ein Depeschenbote dem Hauswart ein dringendes Telegramm durch das Fenster reichte.
Der Hauswart, der nicht viel jünger war als der alte Herr und wie Jacob schon seit einem Menschenalter im Dienste des Barons stand, vermutete als Absender einen Gratulanten und wußte daher nicht recht, ob er das Telegramm nach oben bringen sollte. Aber der rote Streifen ließ es ihm so dringend erscheinen, daß er zur ersten Etage hinaufstieg, um es Jacob zu geben. Mochte der entscheiden.
Jacob, der noch immer vor der Tür des Herrenzimmers saß, sah den Hauswart schon kommen, als er noch auf der Treppe war. Er erhob sich behutsam, führte den Finger an den Mund und wies auf die handbreit offenstehende Tür. In gemeinsamem Dienst aufeinander eingestellt, waren sie daran gewöhnt, sich zu verständigen, ohne viel zu reden. — Jacob sagte sich: den Alten aus dem Schlaf zu wecken wäre unbedenklicher als ihn aus seiner andächtigen Stimmung zu reißen. Er hielt sich daher, trotz der Bedenken, die der Hauswart äußerte, für berechtigt, das Telegramm zu öffnen, um es auf seine Wichtigkeit hin zu prüfen. Sein Erstaunen war so groß, daß er, zitternd an Händen und Beinen, nach der Lehne eines Stuhles griff. Auch der Hauswart, der ihm das Telegramm aus der Hand nahm und es las, entfärbte sich. — Sie waren sich einig, daß der Alte es sofort lesen mußte. — Also schob jetzt Jacob behutsam die Tür ins Zimmer, ging auf den Zehen an den Tisch heran, legte das Telegramm vor den Alten hin und entfernte sich wieder, ohne ein Wort zu sprechen.
Der Alte nahm die Depesche auf und las:
„Eintreffen alle sechs morgen früh sechs Uhr dreißig Frankfurt. Stop. Beordere Autos an Bahn und richte es bitte ein, daß bei dir wohnen können. Stop. Adolf, Adele, Ernst, Elisabeth, Richard, Resi.“
Der Alte ahnte nicht, welche Mühe es die sechs gekostet hatte, sich über den Wortlaut dieses Telegramms zu einigen. Dutzende von Telephongesprächen waren erforderlich gewesen.
Das ist die neue Sachlichkeit, dachte er. So depeschieren Kinder an ihren Vater, der seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag feiert. Und er suchte unter den Papieren, die vor ihm auf dem Tische lagen, ein Telegramm aus dem Jahre 1875 heraus, das er bei ähnlicher Gelegenheit von Gastein aus an seine Mutter gesandt hatte. Das lautete:
„Geliebtes Muttchen. Gib dir keine Mühe, mich hier zurückzuhalten. Ich bin zu Deinem Geburtstag in Frankfurt — mit oder ohne Rheuma. In inniger Liebe Dein Sohn.“
Der Alte zerknüllte das Telegramm — wollte es in den Papierkorb werfen — zögerte — überlegte — lächelte — nickte mit dem Kopf und sagte leise vor sich hin:
„Immerhin, sie kommen — ich hatte es nicht gedacht. — Die Mutter würde sich freuen, wenn sie es noch erlebte.“ — Er entfaltete das Telegramm wieder, legte es vor sich hin und strich es mit den Händen glatt. Er las noch einmal die Unterschriften: „Adolf — Adele — Ernst — Elisabeth! —“ Hier machte er eine Pause und wiederholte: „Elisabeth“ — schloß für einen Augenblick die Augen und wurde ernst. Dann fuhr er fort: „Richard — daß du kommen würdest, mein Junge, hatte ich im Gefühl“ — er nahm das Telegramm wieder auf und las zu Ende. — „Nun denn in Gottes Namen, so werde ich sie also alle zur gleichen Zeit bei mir haben.“
Er läutete — Jacob war im selben Augenblick zur Stelle.
„Ich breche ab“, sagte der Alte, „aber die Kerzen laß brennen — zu Ehren der Toten — die Jugend hat mich überrumpelt — hier, lies.“
„Ich habe bereits ...“
„Ah so — richtig! Das Telegramm war offen.“
„Ich dachte, für den Fall, daß es nichts Wichtiges war, daß ich dann den Herrn Baron nicht hätte zu stören brauchen.“
„Ich