Du Unbekannte. Der Roman einer Jugend. Rudolf Stratz

Du Unbekannte. Der Roman einer Jugend - Rudolf Stratz


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der Colonel! Diese französischen Gesellschaften haben überall die Jagden gepachtet und klettern das ganze Jahr in den Vogesen herum, damit sie für den Ernstfall alle Grenzpässe kennen! In Strassburg, rund um den Broglie, da schiessen sie auch Böcke — aber in ihren Amtsstuben — und merken vor lauter Verfügungen und Regiererei die nächsten Dinge vor ihrer Nase nicht! Manchmal möcht’ ich, ich wäre wieder über’m Rhein in Altdeutschland! Schau dir das Münster gut an, Ernst, vielleicht siehst du es nicht mehr lange! Deswegen reisen wir dieses Jahr schon vor Schluss der Ferien nach Strassburg heiml“

      Gewaltig ragten im letzten Zwielicht Plattform und Turm der Kathedrale schon weithin sichtbar vor dem verblassenden Violett der fernen Schwarzwaldhöhen über die dämmernde Rheinebene. Ernst guckte, vom offenen Eisenbahnfenster aus, mit gemischten Gefühlen auf das feierliche Bild. Denn gleich hinter dieser steinern zum Sternenhimmel aufstrebenden Herrlichkeit stand drüben das langweilige Lyzeum. Man konnte es erwarten, dass man da bald wieder auf der Schulbank hockte. Aber das Münster wuchs unerbittlich aus der Nacht und kam näher und näher und überschattete das winklige Giebelgewirr Alt-Strassburgs. Dessen viele, grellrot durch das Abenddunkel leuchtenden neuen Ziegeldächer gerade vor dem Dom — das waren die Spuren der Belagerung von 1870 — die Neubauten an Stelle der weiten Brandstätten am Steintor vor der dritten deutschen Parallele. Der Gymnasiast konnte sich noch an die langen, grauen Trümmerhaufen des zerschossenen Walls erinnern, die wie Kraut und Rüben dagelegen, als er vor sechs Jahren mit den Eltern in Strassburg einfuhr. Jetzt war der verkohlte Kriegsschutt längst weggeräumt, und innen, in der glühenden, stickigen Stadt, wirrte und lärmte der Alltag um den Fiaker, der vom alten Bahnhof über den Kleberstaden nach der Blauwolkengasse rumpelte. Dort, in der Wohnung im ersten Stock, lag schon eine Depesche für den Vater. Er las sie und brummte etwas in den Bart und schüttelte den Kopf. Er sprach lange im Nebenzimmer mit der Mutter und schnauzte beim Herauskommen auf gut Pfälzisch den Sprössling an, der erwartungsvoll dastand.

      „Halte jetzt gefälligst nicht Maulaffen feil, mein Sohn, sondern setz’ dich nur ruhig auf deinen Hosenboden und mach’ endlich deine Ferienaufgabe für das Lyzeum! Du wirst noch früh genug zu horchen kriegen, ob wir in Strassburg bleiben oder nicht!“

      Das Lyzeum duckte sich halb verkrochen als ein düsterer alter Jesuitenbau an die Masse des Münsters. Auf dem Schlossplatz davor standen ein paar Wochen später, morgens um acht, zu Haufen, die Buben. Stürmisches. Hallo begrüsste den Ernst, den ungekrönten König der neuen Untersekunda. Seine Anhänger umringten ihren Häuptling. Er besass in den beiden feindlichen Lagern der Klasse seine Gefolgschaft. Er verstand sich auf das Kunststück, das selbst dem Statthalter der Reichslande, dem Feldmarschall von Manteuffer, nicht gelang, und brachte die Elsässer und die Altdeutschen unter einen Hut — hier den Charele Vogelin, genannt le petit Parisien, den Sohn des grossen Strassburger Advokaten, und den Schang Werlé, den Erbprinzen der Kattunfabrik drüben in Schirmeck — und dort den Julius Lautensack, den Sohn des kaiserlichen Ministerialrats bei der Statthalterei, und den Alexander, den Ältesten des königlich-preussischen Generalmajors von Willitzkow, und den Franz Gimber und noch ein Dutzend Auserwählte, die Ernst Wachsmuth seiner Gönnerschaft würdigte.

      Und auch der Klassen-Ordinarius, der Keiler, blinzelte ihn, als der Unterricht begann, wohlwollend vom Katheder an. Der alte Junggeselle sah aus, als hätte sich der Wanderer Wotan aus Versehen in das Zimmer der Untersekunda verirrt. Wehender Graubart. Wehende graue Mähne. Wehender grauer Mantel. Ein Bass wie Sturm im Wald. Sooft er konnte, bei Nebelgeriesel und Nebelbrauen, strich er im Schlapphut, mit Skizzenbuch und Staffelei durch die Berge und pinselte Luft und Laub, Wolkenzug und Wassersturz, Mittagslicht und Mondschein. Denn in ihm stak ein Maler — ein verkannter Maler — einer, der es nicht hatte werden sollen, weil der Vater eben ein Hufschmied drüben im Renchtal war. Aber andere — die durften es besser haben! Die konnten was aus sich machen.

      „Du bisch nit e Buresuhn wie ich, Ernscht!“ sagte er in der Pause in seinem Schwarzwälder Deutsch, wenn er sich gehen liess. „’s ische Schand g’nue mit mir und bliebt e gottsträflig U’recht. Aber du wursch e Kuenschtler! Du häsch des Zeug dazu, Atterli! Aus dir wird was Grosses — was ganz Grosses!“ und plötzlich wieder in Hochdeutsch verfallend, mit einem grimmigen Blick der buschigen Augen durch die Kerkerscheiben der Schulstube nach den unsichtbaren Wasgenwaldhöhen: „Sowie ich ein bissel hier mit dem Dreck im Reinen bin, dann marschieren wir mitenanner in die Vogesen und malen nach Herzeluscht!“

      Im tiefsten Forst, wo noch Wildschweine und Wölfe hausten, rauchte da im Wasgenwald ein Kohlenmeiler — ein richtiger Meiler wie aus dem Mittelalter — mit der wabernden Lohe seines Flämmchengezüngels durch die Luftlöcher der Erdpackung über der still schwelenden Glut. Auf den weiten, windumpfiffenen kahlen Hochkämmen strichen da im Regen ganze Heere gespenstiger grauer Nebelfrauen, die Sonne malte tausend Goldkringel in den Säulendom hoher herbstbunter Buchen. Oben aus dem efeuumsponnenen verwitterten Bergfried spreizte ein Eichbaum wie ein geisterhafter Turmwart seine hundert Arme über die Burgruine, in der einst Ritter und Edelfrauen sich geküsst. — Der Keiler und der Ernst pinselten bienenfleissig das Alles mit Wasser und Öl. Sie füllten ganze Skizzenbücher. Sie malten von Samstag mittag bis Sonntag abend grün bemooste Hexenplätze und graue Heidenwälle und braune Holzhauerhütten. Nur den Menschen und Tieren gingen sie vorsichtig aus dem Wege. Die konnten sie nicht. Sie tuschten sie höchstens ganz klein, wie die Liliputaner, als Staffage in ihre Landschaftsstudien hinein.

      Einmal tupften sie ein paar bedeutsame, winzige, scharlachrote Flecken in den Hintergrund einer öden, einsamen Hochweidefläche, über die in regelmässigen Abständen eine Reihe weisser Steinmale auf dem herbstlich dampfenden Boden hinlief. Das war der Trennungsstrich zwischen Deutschland und Frankreich, und dort jenseits von ihm schlenderten schon sonntäglich, trällernd und pfeifend, die ersten Rothosen — so nahe, dass ihr Zigarettenrauch herüberwehte, kleine blau-schwalbenschwänzige Infanteristen aus Gérardmer oder einem der anderen Grenznester drüben auf der welschen Seite, die ebenso von schlafenden Heeren starrten wie die Bergschluchten auf dem deutschen Vogesenhang.

      Diese Skizzen vom Erbfeind waren die letzte Ausbeute gewesen. Nun schnallten der Professor Keiler und der Ernst befriedigt ihre Mappen zu und wanderten das Tal der Thur hinab nach Thann. Dort qualmten schon die ersten Fabrikschlote um das Theobaldsmünster, und drunten in Mülhausen, wo die Beiden bis zur Weiterfahrt nach Strassburg vor dem Bahnhof herumbummelten, verfinsterte sich der schon abendgrauende Himmel vom Rauch von hunderten von Schornsteinen. Die breiten, nüchternen Strassen wimmelten und wogten. Man hörte kaum ein deutsches Wort. Der Ernst bekam keine Antwort auf eine deutsche Frage. Erst als er sie auf französisch wiederholte, wies der nächste Vorüberkommende auf die Waldhöhe jenseits der Bahn:

      „Monsieur de Dietsch? Mais oui! — Suivez la passerelle au-delà de la gare!“

      „Das ist zu weit! Da kommt man heut nicht mehr hin!“ sagte der Gymnasiast mit einem Blick über die Eisenbahnbrücke weg zu dem von prunkvollen Villen der Grossindustriellen übersäten Rebberg.

      „Was wilt denn du bei den Kaibs da obe?“ grollte der graubärtige Wotan neben ihm. „Das isch e welsche Bagag’, der Reih’ nach, wie sie gewachse sind!“

      „Ja — der Papa hat auch gestern beim Frühstück wieder feste auf die Notabeln geschimpft und gesagt: denen kommt kein wahres Wörtle aus’m Maul! Das sehe man wieder an so’ner Kleinigkeit mit dem Dietsch! Von dem ist doch keine Zeile gekommen, obwohl er dem Papa extra versprochen hat, er wollt’ ihm schreiben, wie das mit dem Hund . . . Ach . . . jetzt da guck’ her!“

      Der Gymnasiast unterbrach sich erfreut. Er liess seinen Mentor stehen und lief nach dem Bahnhof zurück, auf einen Backfisch zu, der da dünnbeinig und leichtfüssig im Strom der Reisenden herausschlüpfte, und zog überglücklich die Mütze.

      „Wie geht’s dem Güstave, Mademoiselle de Dietsch?“ frug er schnell und aufgeregt. Die Dreizehnjährige vor ihm war schon kleine Dame. Sie streifte den fremden Jungen kaum mit einem frostigen Seitenblick. Erkannte ihn dann. Blieb stehen und zeigte lachend die kleinen weissen Zähne in dem hübschen Gesichtchen.

      „Oh — Salü!“ sagte sie. „Der Chien — der befindet sich nit üwel! Der ist saïn et sauf!“

      „Mais, Laurienne.“ Die


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