Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit. Rodney Stark
die Bibel die Astrologie nicht nur nicht, sondern die Geschichte der Heiligen Drei Könige, die dem Stern von Bethlehem folgen, belegt sogar deren Statthaftigkeit. Andererseits legte Augustinus im 5. Jahrhundert vernünftig dar, dass die Astrologie falsch sein müsse, da der Glaube an ein vorbestimmtes Schicksal nicht vereinbar sei mit dem freien Willen, den Gott uns geschenkt habe.4 Ähnlich war es mit der theologischen Konzeption von Maria: obwohl viele frühe Christen, darunter der Apostel Paulus, die Annahme stützten, dass Jesus Brüder gehabt habe,5 ihrerseits gezeugt von Josef und geboren durch Maria, geriet diese Ansicht in energischen Konflikt mit ihrer weiteren Auslegung durch spätere Theologen. Das Problem wurde dann im 13. Jahrhundert gelöst, als Thomas von Aquin die Doktrin von Mariens Jungfrauengeburt dergestalt definierte, dass Maria keine anderen Kinder zur Welt gebracht habe: »So behaupten wir ohne Vorbehalt, dass die Mutter Gottes als Jungfrau schwanger wurde, als Jungfrau gebar und auch nach der Geburt Jungfrau geblieben ist. Die Brüder des Herrn waren keine natürlichen Brüder, die von der gleichen Mutter geboren wurden, sondern Blutsverwandte.«6
Dies und ähnliches waren nicht nur bloße Erweiterungen der Bibeltexte, sondern Beispiele für sorgfältige und vernünftige Schlussfolgerungen, aus denen dann wiederum neue Doktrinen entstanden: die Kirche verbot die Astrologie, die Immerwährende Jungfräulichkeit Mariens wurde zur offiziellen katholischen Lehre. Wie diese Beispiele zeigen, vermochten große Geister oftmals eine Kirchendoktrin durch logisches Denken erheblich zu verändern oder gar umzudrehen. Niemand konnte dies besser und hatte größeren Einfluss als die Heiligen Augustinus und Thomas von Aquin. Natürlich haben auch tausende anderer Theologen versucht, den Doktrinen ihren Stempel aufzudrücken. Manchen gelang es, die meisten wurden übergangen und noch andere wurden als Häretiker ausgesondert. Es geht aber stets darum, dass hinter jeder Darlegung gleich welchen Aspekts der christlichen Theologie eine hohe Autorität stehen muss. Es ließen sich problemlos in den Arbeiten tausender unbedeutender Theologen Zitate finden, die die bizarrsten Standpunkte belegen. Entsprechend haben Historiker oft diesen Ansatz gewählt; doch ist es nicht meiner. Ich werde geringere Persönlichkeiten nur dann zitieren, wenn ihre Ansichten auch von großen Theologen bestätigt worden sind, wobei ich im Hinterkopf behalte, dass die maßgebende Position der Kirche sich in vielen Fällen weiterentwickelte und das mitunter so sehr, dass ihre früheren Lehren ins Gegenteil verkehrt wurden.
Führende christliche Theologen wie Augustinus und Thomas von Aquin entsprachen nicht eben dem, was heutzutage mit strenger Bibel-Exegese in Verbindung gebracht wird. Vielmehr bedienten sie sich stets ihrer Vernunft, um größere Einsicht in die göttlichen Pläne zu gewinnen. Tertullian sagte es im 2. Jahrhundert so: »Die Vernunft ist insofern ein Ding Gottes, als es nichts gibt, das Gott der Schöpfer uns nicht durch Vernunft verliehen oder auferlegt hat. Und so soll auch nichts von dem, was er nicht will, mit Mitteln der Vernunft verstanden und gehandhabt werden.«7 Im gleichen Geiste sprach Clemens von Alexandria im 3. Jahrhundert die Warnung aus: »Denkt nicht, dass wir behaupten, diese Dinge könnten durch den Glauben allein empfangen werden, stattdessen muss die Vernunft sie zunächst immer bestätigen. Denn tatsächlich ist es ein Wagnis, diese Dinge dem bloßen Glauben zu überlassen, da die Wahrheit sicherlich nie ohne die Vernunft existieren kann.«8
Daher drückte Augustinus in erster Linie etwas aus, das bloß dem letztgültigen allgemeinen Stand der Weisheit entsprach, als er sagte: »Der Himmel bewahre, dass Gott in uns gerade das zu hassen beginnt, mit dem er uns den Tieren überlegen gemacht hat. Der Himmel bewahre, dass unser Glaube nicht die Vernunft begehre oder zumindest akzeptiere, da uns der Glaube ja gar nicht möglich wäre, besäßen wir keine vernunftbegabten Seelen.« Augustinus hatte erkannt, dass »der Glaube der Vernunft vorangehen und zunächst das Herz reinigen muss, damit es bereit ist das helle Licht der Vernunft zu empfangen und auszuhalten«. Und er fügte hinzu, dass, obwohl es nötig sei, »dass der Glaube der Vernunft vorangeht, in gewissen, bis dahin noch nicht begreifbaren Momenten, der sehr kleine Anteil der Vernunft, der uns von diesem Umstand überzeugt, wiederum dem Glaube vorausgehen muss«.9 Die scholastischen Theologen setzten weitaus mehr Glauben in die Vernunft, als die meisten Philosophen es heutzutage tun.10
Natürlich widersetzten sich manche einflussreiche Kirchenmänner diesem Primat der Vernunft und hielten dagegen, dass die besten Diener des Glaubens der Mystizismus und das spirituelle Erleben seien.11 Ironischerweise hat der inspirierendste Fürsprecher dieses Standpunkts seine Thesen auf eine Weise formuliert, die ganz besonders elegant und vernunftdurchtränkt war.12 Der Widerspruch gegen die Vernunft war natürlich in manchen religiösen Orden sehr populär, besonders bei den Franziskanern und den Zisterziensern. Doch konnten sich ihre Ansichten nicht durchsetzen – und wenn auch nur aus dem einen Grund, weil an den Universitäten, in denen die Vernunft im Besonderen regierte, die offizielle Theologie der Kirche den Ton angab.13
Der christliche Glauben in seinem Fortschritt
Auch das Judentum und der Islam haben sich das Bild eines Gottes zu eigen gemacht, dem eine Theologie hätte zur Seite gestellt werden können, doch ließen ihre Gelehrten dieses Feld unbestellt. Stattdessen sehen sowohl das traditionelle Judentum14 wie die Muslime in der Heiligen Schrift vor allem einen Gesetzestext, der verstanden und angewandt werden muss und nicht eine Grundlage für Untersuchungen in der Frage nach dem letzten Sinn. Daher fassen Gelehrte das Judentum und den Islam oft als »orthopraktische« Religionen auf, denen es vor allem um die korrekte (ortho) Anwendung (praxis) von Glaubenssätzen geht und die »ganz fundamental die Einhaltung von Gesetzen und Regeln im Gemeinschaftsleben betonen«. Dagegen bezeichnen die Gelehrten das Christentum als »orthodoxe« Religion, weil es das korrekte (ortho) Fürwahrhalten (doxa) hervorhebt und »das Hauptaugenmerk auf den Glauben und seine intellektuelle Strukturierung durch das Credo, den Katechismus und die Theologien« legt.15 Bei einer typischen Kontroverse zwischen jüdischen und muslimischen Denkern geht es darum, ob eine bestimmte Handlung oder Erfindung (etwa die Reproduktion der Heiligen Schrift durch die Druckerpresse) im Einklang mit dem bestehenden Gesetz ist. Eine typische christliche Kontroverse ist dagegen doktrinär und befasst sich etwa mit Themen wie der Heiligen Dreifaltigkeit oder der Immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens.
Natürlich haben auch führende christliche Denker sich mit dem Gesetz beschäftigt und manch jüdischer wie muslimischer Gelehrter sich mit theologischen Fragen auseinandergesetzt. Und doch haben die drei Glaubensrichtungen an dieser Stelle sehr verschiedene Stoßkräfte und besondere Konsequenzen.
Rechtsauslegungen beziehen sich auf Präzedenzfälle und werfen daher sozusagen ihre Anker in die Vergangenheit, während das Bemühen um ein besseres Verständnis der göttlichen Natur dagegen von einer Möglichkeit des Fortschritts ausgeht. Und genau diese Annahme des Fortschritts ist es, die den entscheidendsten Unterschied zwischen dem Christentum und allen anderen Religionen ausmachen dürfte. Sieht man vom Judentum ab, begreifen die anderen großen Glaubensrichtungen die Geschichte entweder als endlos wiederholten Kreislauf oder als unabwendbaren Niedergang – so soll Mohammed gesagt haben: »Die beste aller Generationen ist meine eigene, gefolgt von der nächsten und dann wiederum der nächsten.«16 Im Gegensatz dazu haben Judentum und Christentum eine richtungsweisende Konzeption der Geschichte, die in die Wiederkehr Christi und das Millennium mündet. Allerdings betont die jüdische Vorstellung der Geschichte nicht so sehr den Fortschritt, als vielmehr das Moment der Sequenz, des Nacheinanders, wohingegen das Christentum die Idee des Fortschritts verinnerlicht hat. John Macmurray schrieb dazu: »Daß wir überhaupt an so etwas wie Fortschritt denken, zeigt das ganze Ausmaß des christlichen Einflusses.«17
Die Dinge lägen vielleicht anders, hätte Jesus eine schriftliche Mitteilung hinterlassen. Doch anders als Mohammed und Moses, deren Schriften als göttliche Übermittlungen aufgefasst wurden, hat Jesus nie etwas verfasst, so dass die Kirchenväter von Anfang an aus den Implikationen seiner Worte – einer Sammlung von Aussagen, die nur der Erinnerung der Evangelisten entstammten – ihre Schlüsse ziehen mussten. Das Neue Testament ist kein vereinheitlichtes Dokument, sondern eine Sammelschrift.18 Demzufolge steht im Hintergrund aller theologischen Deduktion stets das Wort des Paulus: »Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk ist unser prophetisches Reden.«19 Man vergleiche